30. Juni 2016 / Helga Hensle-Wlasak
Ein Tierbuch namens Physiologus, Wunder Tier Teil 6
Der anonym gebliebene Verfasser des Physiologus (griech., „Erforscher der Natur“) liefert in diesem aus Alexandrien stammenden Text die Beschreibung und christliche Deutung von ausgewählten Tieren in griechischer Sprache.
Die Taube – ein wichtiges Symbol
Von allen Tieren im Physiologus nimmt die Taube den meisten Platz ein. Ihr sind fünf von 48 Abschnitten gewidmet, was ihre große Bedeutung als christliches Symbol widerspiegelt. Die Taube in der Hand des Jesusknaben – wie bei der sogenannten Admonter Madonna in der Alten Galerie – ist ein besonders beliebtes Motiv im Mittelalter und weist auf das Wirken des Heiligen Geistes bei der künftigen Taufe hin.
Der Physiologus geht darüber hinaus und vergleicht zum Beispiel Gottes Worte mit dem Gurren und Klagen der Turteltauben und Haustauben. In der Bibel wird darauf verwiesen, dass die Juden Tauben als Opfertiere in den Tempel bringen können, wenn sie sich kein Opferlamm leisten können. So ist dies auch am Fest der Darbringung 40 Tage nach der Geburt des Herrn geschehen, als die Prophetin Hanna dem Hohenpriester zwei Tauben überbringt.
Seltsame Wunderwesen und teuflische Verführer
Auch einige Steine, Pflanzen und seltsame Wunderwesen wie das Einhorn oder das Meeresungeheuer Säge, das mit den Segelschiffen um die Wette segelt, bis es ermattet zurückfällt, werden im Physiologus beschrieben und in einen christlichen Kontext gebracht. Besonders eindringlich wird von jenen Tieren erzählt, die das Böse verkörpern. Das ist neben der Schlange, die das erste Menschenpaar am Baum der Erkenntnis verführte, vor allem der Drache. Ihm ist merkwürdigerweise kein eigenes Kapitel gewidmet, obwohl er seit der Antike als real existierendes Tier angesehen wurde. Der Drache tritt stets als teuflischer Verführer und Feind von anderen Tieren wie dem Hirsch oder Elefant auf, die ihn aber dank göttlicher Liebe überlisten und besiegen können. Auch christlichen Heiligen wie dem Erzengel Michael gelingt es, das Untier zu töten.
Nach mittelalterlichem Verständnis sind auch die bösen Tiere ein unverzichtbarer Teil der Schöpfung, da erst durch sie das Gute vollbracht werden kann. So spielt der Wal, der den Propheten Jona verschlingt und wieder auswirft, eine wichtige Rolle in der typologischen, auf Christus bezogenen Bibelauslegung.
Literarische Tradition
Schon im Altertum wurde begonnen, das Wissen über die Tiere zu sammeln und niederzuschreiben, wie es beispielsweise der römische Naturforscher Gaius Plinius der Ältere tat (23–79 n. Chr.). Aus diesen überlieferten Quellen schöpfte der Physiologus seine zoologischen Kenntnisse. Als der eigentliche Begründer der abendländischen Biologie gilt aber der griechische Philosoph Aristoteles (gest. 322 v. Chr.). Seine Erforschung der botanischen und zoologischen Lebensbereiche, vor allem seine Systematik der Tiere in zwei große Stämme – der „Blutlosen Tiere“ und der „Bluttiere“ – hat als Lehrbuch bis in die Neuzeit Gültigkeit gehabt. Unter dem Titel De animalibus („Über die Tiere“) hat Aristoteles 19 Bücher verfasst, die die wunderbare Vielfalt der Tierwelt aufzeigen. Die textgeschichtlich interessante Passage „Schön hat der Physiologus gesprochen“, mit der viele Kapitel des Physiologus enden, bezieht sich daher vermutlich auf den großen Aristoteles.
Der Physiologus ist vorbildhaft für die Tierdarstellungen der frühchristlichen Kunst geworden. In der lateinischen Übersetzung aus dem 4./5. Jahrhundert erfuhr der Text eine rasche Verbreitung im Westen, wo seit der karolingischen Zeit auch bebilderte Abschriften entstanden. Berühmt geworden ist der sogenannte Millstätter Physiologus aus der Zeit um 1200, der als erste deutsche Ausgabe auch einfache Federzeichnungen zu den besprochenen Tieren enthält.
Reich ausgestattete Bestiarien
Das Bestiar (lat. Bestia, wildes Tier) übernahm im Mittelalter die Verbreitung des immer größer werdenden zoologischen Wissens. Es wurde anfangs oft synonym für den Physiologus verwendet, enthält aber jüngere enzyklopädische Einschlüsse, z. B. von Isidor von Sevilla (gest. 636 n. Chr.) oder Hrabanus Maurus (gest. 856 n. Chr.). Die Blütezeit der vorwiegend in England entstandenen Bestiarien war das 12. und 13. Jahrhundert. Ihre reiche Bildausstattung mit wundersamen Tierszenen machte diese Bücher zu einer Fundgrube für die Ikonographie der Tiere und bis ins 15. Jahrhundert zu besonders beliebten Naturkundewerken.
Tipp:
Eine Reclam-Ausgabe des Physiologus ist anlässlich der Sonderausstellung „Wundertiere. 1 Horn und 100 Augen“ im Shop von Schloss Eggenberg erhältlich.
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