Versand

In den 1880er-Jahren etablierte Kastner & Öhler als eines der ersten europäischen Unternehmen einen Versandhandel und erreichte damit den gesamten Raum der Monarchie. Welche Voraussetzungen hatte der Verkauf von Produkten via Katalog und wie wurde er intern organisiert? Wie entwickelte sich das Katalogangebot bis zum Ersten Weltkrieg? Wie beeinflusste es das Konsumverhalten und den Lebensstil jener Menschen, die außerhalb der Zentren lebten? Was lässt sich über die Erscheinung, über Stil und Sprache der Kataloge sagen? Was erzählen sie uns über die Welt von vor 100 Jahren?

Die Anfänge des Versandhandels

1887 startete Kastner & Öhler als eines der ersten Unternehmen in Europa einen Versandhandel. Mehrsprachige Warenkataloge wurden fortan in die gesamte Donaumonarchie verschickt. 1912 gab es bereits 60.000 Kundinnen und Kunden, die in Bosnien, Herzegowina, Dalmatien, den nahe gelegenen Teilen Ungarns sowie den Alpenländern lebten. Der Versandhandel machte es möglich, Waren auch nach der Saison abzusetzen oder Schwankungen im Ortsgeschäft auszugleichen. Für die Menschen außerhalb der Zentren brachten die Kataloge eine bis dahin nicht gekannte Zugänglichkeit zum wachsenden Warenangebot.

Illustrierter Modewarenbericht 1887, Firmenarchiv Kastner & Öhler

Katalog als Lesebuch

Heute geben die frühen Kataloge mit ihrem Warenangebot, mit ihrer grafischen Aufmachung und Sprache Einblick in die sich entwickelnde Konsumkultur um 1900, in Stil und Moden dieser Zeit: Sie zeichnen ein Bild von der bürgerlichen Arbeitswelt und Freizeitkultur. Sie widerspiegeln Selbstbilder und Idealvorstellungen, Wünsche und Werte der potenziellen Käuferinnen und Käufer. Sie deuten soziale und kulturelle Praktiken an, die mit den dargebotenen Dingen in Verbindung stehen.

Illustrierter Modewarenbericht 1912/13, Firmenarchiv Kastner & Öhler

Interne Organisation des Versandhandels

Der Postversand brachte mit neuen Aufgaben neues Personal, das für die Annahme der Bestellungen, das Versenden der Mustersammlungen sowie die Zusammenstellung und Verpackung der Waren sorgte. Nach Bericht von Albert Kastner wurde für die Versandabteilung beinahe die gesamte dritte Etage des Warenhauses adaptiert. Die Erledigung der Bestellungen erfolgte längere Zeit noch auf etwas altmodische Art: Angestellte übernahmen zugewiesene Briefe zur vollständigen Erledigung. Mit der wachsenden Zahl an Aufträgen wurde dies aber zusehends unpraktikabel.

Versandabteilung Kastner & Öhler, 1925, Privatarchiv M. Kastner

Bestimmungen für den Versand

Versandhandel bedeutete garantierte Verfügbarkeit der Waren, fixe Preise und rasche Zustellung. Ausschlaggebend für den Erfolg dürften zudem die zuvorkommenden Versandbestimmungen gewesen sein. So vermittelte die persönliche Ansprache der Leser/innen – bei aller räumlichen Distanz – Vertrautheit und Verbindlichkeit. Ein fein gegliedertes Inhaltsverzeichnis erleichterte die Orientierung. Der portofreie Versand nach Österreich-Ungarn sowie Deutschland verhinderte den Anschein von Mehrkosten durch Bestellung. Und die Rückerstattung des Geldes bei Rückgabe der Ware schuf einen Ausgleich für das Wegfallen einer persönlichen Warenprüfung und -anprobe vor Ort.

Illustrierter Modewarenbericht 1909, Firmenarchiv Kastner & Öhler

Sozialisierung zum Versandkunden

Ein Produkt aus dem Katalog zu bestellen, musste erst erlernt werden. Hilfe und Anleitung boten teils eindringliche Bestimmungen, die wohl aus praktischen Erfahrungen entwickelt worden sein dürften. So legt der Hinweis „Das Herausschneiden von Figur-Abbildungen ist gänzlich unnöthig …“ nahe, dass mitunter zur Schere gegriffen wurde, anstatt die Produktnummern in Bestellscheine einzutragen. Die da und dort geforderte präzise Nennung der Hals- und „Mittenweite“, von Kopf- und Hüftumfängen lässt vermuten, dass die Ausmaße des eigenen Körpers häufig falsch eingeschätzt wurden.

Illustrierter Modewarenbericht 1903, Firmenarchiv Kastner & Öhler

Stil und Sprache der Kataloge

Die „Welt von Gestern“ offenbart sich auch in der mitunter pathetischen Sprache der Modewarenberichte, um deren „gefällige Beachtung“ und „freundliche Zirkulation im Bekanntenkreis“ „höflichst“ gebeten wird. Die in den Katalogen offerierten „imposanten Warenvorräte“ werden gern als „bekannt beste Erzeugnisse“, „hochfein“ und „apart“ oder mit „geschmackvoller Musterung“ vorgestellt. Das Unternehmen selbst betont immer wieder seine „unerreichte Leistungsfähigkeit“ und verspricht „Euer Hochwohlgeboren“ die Zustellung der Produkte „innerhalb kürzester Frist“.

Illustrierter Modewarenbericht 1910, Firmenarchiv Kastner & Öhler

Ordnung der Dinge

Die frühen Modewarenberichte geben Einblick in die Gebrauchsgrafik, in Konzepte von Ordnung, Ästhetik und Benutzer/innen-Freundlichkeit einer Zeit: Während Kleider und Haushaltsartikel sich teilweise in alltäglichen Szenen angedeutet finden, wird ein Gutteil des Angebots in Reih und Glied geordnet vorgeführt. Die klare Trennung von Bild- und Textbereichen sowie die strikte Gleichstellung aller Produkte einer Art sind zum einen den Bedingungen der Katalogproduktion geschuldet. Sie suggerieren aber auch Zeitlosigkeit und antimodische Gültigkeit der nützlichen Dinge und lassen Vertreter einer Warengruppe – ob günstig oder teuer – als gleichwertig erscheinen.

Illustrierter Modewarenbericht 1901, Firmenarchiv Kastner & Öhler

Konsum und Emotion

Konsum um 1900 wird nicht nur als eine pragmatische, sondern auch als emotionale Angelegenheit beschrieben: Wer kauf, stillt Bedarf. Wer kauft, sucht das angenehme Erlebnis. Was für die Besorgung im Warenhaus Gültigkeit beansprucht, kann auf den Erwerb per Bestellung übertragen werden: Schon das Warten auf den Katalog war möglicherweise mit Vorfreude verbunden. Sein Studium wurde im Familien- oder Freundeskreis genossen und die eigene Produktkenntnis dabei stolz unter Beweis gestellt. Das erfolgreiche Ausfüllen des Bestellscheins sorgte als Ausdruck erworbener Kaufkompetenz vielleicht für anerkennenden Beifall. Und sein Abschicken konnte bereits in freudiger Erwartung der Dinge geschehen.

Illustrierter Modewarenbericht 1911, Firmenarchiv Kastner & Öhler

Warenwege

Immer wieder wird in den Katalogen Bezug auf Graz als Unternehmenssitz genommen und angedeutet, wie die Waren ausgehend vom Bahnhof per Eisenbahn und Kutsche ihren Weg zu den Käuferinnen und Käufern finden. Tatsächlich lässt sich der Versandhandel im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert nicht von den wirtschaftlichen und technischen Bedingungen der Zeit trennen: Erst die verbesserte Kommunikationssituation, eine professionalisierte Infrastruktur und dadurch leichtere Transporte machten den massenhaften Versand von Waren möglich und wirtschaftlich attraktiv.

Illustrierter Modewarenbericht 1907/08, Firmenarchiv Kastner & Öhler

Warenversorgung der Provinz

Die ländliche Bevölkerung wurde bis ins 19. Jahrhundert von ortsansässigen Greißlern und Hausierern versorgt, die ihr Angebot am Notwendigen orientierten. Mit dem Aufkommen der Warenkataloge wurden der Landbevölkerung Konsumgüter in bis dahin nicht bekanntem Maß zugänglich. Die Kataloge stellten aber nicht nur Waren vor: Sie trugen Bilder vom eleganten und pulsierenden Leben der Stadt in die Dörfer, sie verbreiteten Vorstellungen von Geschmack und Stil. Es war im Wesentlichen der Konsum, der ab dem späten 19. Jahrhundert zu einem Abschleifen der Kluft zwischen den ländlichen und städtischen Lebensweisen und zu einer schrittweisen Annäherung von Stadt und Land führte.

Illustrierter Modewarenbericht 1907, Firmenarchiv Kastner & Öhler

Krieg im Katalog

Garantierte Warenverfügbarkeit, prompte Zustellung und feste Preise waren wesentlich mitverantwortlich für den Erfolg des Versandhandels. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Jahr 1914 ließ die Marktlage, die Kosten für Rohmaterial und Erzeugung zunehmend unberechenbar werden. Mehr oder weniger beiläufig teilten die Firmeneigentümer dies 1915 den Kundinnen und Kunden mit – noch nicht ahnend, wie sehr der Krieg ihren Wirkungsbereich verändern sollte: Mehrsprachige Hinweise an alle „in der Monarchie lebenden Völker“ sollten bald keine Leser/innen mehr finden.

Illustrierter Modewarenbericht 1915, Firmenarchiv Kastner & Öhler

Verschwundene Dinge

Die Modewarenberichte des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts sind voll von Dingen, die es heute nicht mehr gibt, die in Vergessenheit geraten sind bzw. ihre Bedeutung als Massenware eingebüßt haben. Mit Glacé-Handschuhen, Miedern und Sonnenschirmen, Kinderschürzen und Damen-Nachtjacken, Herren-Unterbeinkleidern, Touristen- und Dieneranzügen, Chiffon- und Anstandsröcken, Fahnenstoffen, Wandschonern und geklöppelten Zwirnspitzen sind nicht nur Moden verschwunden, sondern auch Gewohnheiten und Alltagspraktiken, Rollenbilder und Schönheitsideale verloren gegangen.

Illustrierter Modewarenbericht 1898/99, Firmenarchiv Kastner & Öhler

Markenartikel

Die Qualität der in den Modewarenberichten feilgebotenen Produkte wurde durch Angaben zur Materialzusammensetzung und/oder der regionalen Herkunft des Produktes garantiert. Mit Dr. Jägers Normalwäsche taucht erstmals ein Markenartikel im Katalog auf. Grafisch aus der Anonymität und Masse der übrigen Waren herausgehoben, konzentriert sich die Reklame auf möglichst übersichtliche Darstellung des Produkts. Für gleichbleibende Qualität bürgt das Markenzeichen.

Illustrierter Modewarenbericht 1903/04, Firmenarchiv Kastner & Öhler

Museum für Geschichte

Sackstraße 16
8010 Graz, Österreich
T +43-316/8017-9800
geschichte@museum-joanneum.at

 

Öffnungszeiten


Di-So, Feiertag 10 - 18 Uhr

 

24. bis 25. Dezember 2023