Konsum im Warenhaus vollzog sich auch vor 100 Jahren schon als Zusammenspiel verschiedener Akteurinnen und Akteure und einer entsprechend eingeübten Dramaturgie. Konsum war schon damals an festgelegte Settings und rahmende Accessoires gebunden. Was lässt sich heute über die Rollen und Beziehungen zwischen Angestellten und Kundinnen/Kunden in den frühen Jahren von Kastner & Öhler in Erfahrung bringen? Durch welche Rahmenbedingungen, Regeln und Rituale war Konsum zu jener Zeit bestimmt? Wo erholte man/frau sich vom stundenlangen, kräfteraubenden Einkauf?
Themen im Überblick
Entspannen im Café
Zur Innenausstattung des 1912/13 errichteten Warenhauses gehörten auch diverse Sonderräume: Die Dachgärten und Erholungsbereiche sowie ein Erfrischungsraum mit 300 Sitzplätzen und täglichem Konzert boten den vom Einkauf ermüdeten Käuferinnen und Käufern die Möglichkeit, eine Pause einzulegen: sich in angenehmer Atmosphäre auszuruhen, am Buffet Getränke und kleine Speisen zu konsumieren oder sich mit Bekannten zu treffen. Diese Servicebereiche stärkten das Warenhaus als Freizeitort, an dem man nicht nur eine rasche Besorgung machte, sondern nach Lust und Laune abwechslungsreiche Stunden verbringen konnte.
Mode und Körpernormierung
Bequemlichkeit und Bewegungsfreiheit waren nicht die obersten Prinzipien der Mode um 1900: Mieder und Geradehalter korrigierten jederzeit die Haltung ihrer Trägerinnen. Hüte und Kinder-Sonnenschirme spornten schon kleine Mädchen zum würdevollen Schreiten an. Sockenhalter sollten an Herrenbeinen für Ordnung sorgen. Die frühen Modewarenberichte belegen: Sich zu kleiden bedeutete nicht nur eine Anpassungsleistung des Körpers an bestimmte Kleidergrößen, es bedeutete auch sein Zwingen in Posen und seine Formung im Hinblick auf ein bestimmtes Körperideal.
Körper und Konfektion
An den neuen Konsummöglichkeiten teilnehmen zu wollen, hieß auch, sich dem Gegebenen zu fügen. So kommt es mit dem Beginn der Massenproduktion von Kleidung und der Einführung der Konfektionsgrößen zu einer Umkehrung bisheriger Verhältnisse: Nicht mehr die Kleidung hatte sich an den individuellen Körper der Trägerin oder des Trägers anzupassen, sondern umgekehrt mussten die Körper den vorgegebenen Standardgrößen entsprechen. Wenn etwas „nicht passte“, so wurde dies künftig der Trägerin angelastet und nicht mehr dem Schneider oder dem Kleidungsstück ...
Anprobe
Mit der Zunahme von Konfektionsware, also von serienmäßig gefertigter Kleidung in genormten Größen, stieg die Notwendigkeit, Blusen, Hemden und Röcke, Kleider, Anzüge und Mäntel anzuprobieren. Wie Albert Kastner berichtet, war für dieses Testen der Stücke in Bezug auf Passform und Gesamtbeschaffenheit bei Kastner & Öhler lange Zeit durchaus wenig Bequemlichkeit und Komfort vorgesehen: Zwischen zwei Stellagen war ein Vorhang gezogen. Dahinter konnte die Kundschaft sich im gewählten Kleidungsstück in einem der wenigen Spiegel im Haus besehen. Dies dürfte sich spätestens mit dem Neubau des Warenhauses 1912/13 geändert haben.
Rituale des Konsums
Der Erwerb eines Produkts im frühen Warenhaus entspricht nicht dem unmittelbaren Kaufakt, sondern muss als Prozess gelesen werden. Einerlei, ob es um die Anschaffung von Haushaltstextilien oder Bekleidung ging: Warenerwerb setzte das Zusammenspiel unterschiedlicher Akteurinnen und Akteure voraus. Er beinhaltete Austausch, Abwägen und Aneignung mit Spielregeln. Er war – bei aller Heterogenität des Sortiments wie der Kundschaft – mit seinen Formeln und Ritualen, Blicken und Bewegungen, Fragen, Zweifeln und Antworten, prüfenden Gesten und Anproben weitgehend standardisiert.
Verkäufer/in sein
Die Warenhäuser definierten die Rolle der Verkäufer/innen neu: Ihre Aufgabe bestand nun darin, die Kundinnen und Kunden mit jenen Abertausenden von Waren in Berührung zu bringen, die – teils sichtbar, teils verpackt – nicht im heutigen Sinn zugänglich waren: Sie wussten, wo in den Regalen das verlangte Produkt in bestimmter Art und Größe zu finden war. Es oblag ihnen, die Waren aus den sie schützenden Schachteln und Papieren zu ziehen und auf den Verkaufstischen vorzulegen. Sie sollten erläutern, beraten, überzeugen und die vorab festgelegten Preise kommunizieren – anders als zu früheren Zeiten, in denen sie theatralisch den Preis verhandeln mussten.
Schauplatz Warenhaus
Einmal eingetreten, zeigte das Warenhaus eine neuartige Dramaturgie des Kaufs auf: Die großzügige Architektur lud das Publikum zum zwanglosen Flanieren ein. Das weitläufige Warenangebot verführte zum Staunen und legte nahe, es mit schweifenden Blicken zu sondieren. Die Inszenierung der Produkte, die künstliche Beleuchtung oder die Möglichkeit, Aufzüge zu benutzen, brachten die Kundinnen und Kunden in neuartige Erlebnissituationen. Schließlich war das Warenhaus Bühne: Ort der Selbstdarstellung und Ort, um andere zu sehen.
Stadt als Schaufenster
Mit der Moderne entstand die Freizeit als neue „Gegenzeit“ zur Arbeitszeit. Mit dem Aufkommen der Konsumkultur veränderten sich die Funktionen und Erscheinungsformen der Stadt. Die Bürgerinnen und Bürger nutzten die neue Freiheit der Abende, der Sonn- und Feiertage unter anderem, um durch die sich entwickelnden Geschäftsstraßen zu flanieren. Sie definierten ihre Routen entlang der Schaufenster neu, passten ihre Gehgeschwindigkeit der Attraktivität der Auslagen an. Die Warenwelt hinter Glas gab Anlass, das dort Gesehene im Freundes- und Familienkreis zu deuten und zu diskutieren.
Museum für Geschichte
Sackstraße 16
8010 Graz, Österreich
T +43-316/8017-9800
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Di-So, Feiertag 10 - 18 Uhr
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