Verkehrte Welt

Ort: Eine Schranne in einem Dorf an der Mur
Zeit: um 1220


Es treten auf: EIN ALTER SÄNGER, der einen weiten Weg hinter sich zu haben scheint. ZWEI FAHRENDE SCHOLAREN, beide Anfang 20. Inmitten einer sich langsam versammelnden Menge stoßen sie jäh aufeinander und kommen miteinander ins Gespräch.


DER ALTE SÄNGER: Was läuft hier so viel Volk zusammen?


SCHOLAR 1: Es wird Gericht gehalten, bei der großen Linde.


DER ALTE SÄNGER: Wer rechtet mit wem?


SCHOLAR 2: Ein Bauer mit seinem Nachbarn.
DER ALTE SÄNGER: Böser Nachbar, ewiger Krieg. SCHOLAR 1: Ihr sagt es, Herr!
SCHOLAR 2: Gute Leute sind nicht Nachbarn. Und jedes Gut braucht seine Hut.
SCHOLAR 1: Uns quälen solche Sorgen nicht. Wir sind fahrende Scholaren.
DER ALTE SÄNGER: Von woher kommt ihr?
SCHOLAR 2: Von unserm Meister, einem hochgelehrten Mann! Er lehrte uns,
die Schrift zu deuten in vierfachem Sinn.
DER ALTE SÄNGER: Und wohin seid ihr unterwegs?
SCHOLAR 1: In das ferne Land Gugelmüre. Dort fliegen uns die Schwalben gebraten
in's Maul. Die Häuser sind mit Fladen gedeckt und gut eingezäunt mit Würsten.
SCHOLAR 2: Verschlingt man sie, so wachsen sie nach.
SCHOLAR 1: Dort gibt es Kirchtürme, gemauert aus Butter, und sengt auch die
Sonne auf sie herab, sie halten doch stand und zerfließen nicht.
DER ALTE SÄNGER: Dieses Land werdet ihr lange suchen müssen ...
SCHOLAR 2: Und ihr? Woher kommt ihr, alter Mann? Wie heißt ihr?
DER ALTER SÄNGER: Man nennt mich Den von der Vogelweide. Viele Länder habe
ich durchlaufen, von der Seine bis hierher an die Mur, an vielen Höfen habe ich
gesungen, oftmals auch am wonnesamen Hof zu Wien, der Menschen Brauch hab ich
gesehn im Aufgang und im Untergang, und überall ist es dasselbe: Den meisten
Menschen
ist es gleich, wie sie ihr Hab und Gut vermehren. Besitz kommt überall vor
Ehre. Eine verkehrte Welt.
SCHOLAR 1: Im Kleinen wie im Großen! Denn seht, hier, bei diesem Landgericht
rechtet ein reicher Bauer mit seinem Nachbarn.
SCHOLAR 2: Ein Markstein ist gewandert zugunsten des Reichen am hellichten Tag.
Hiebe hat es gesetzt auf den Rücken des Armen. Blut ist geflossen. Das ganze Dorf
weiß es.
DER ALTE SÄNGER: Und wer, meint ihr, wird Recht bekommen?
SCHOLAR 1: Die Schöffen, einer feister als der andre, halten zum Reichen.
DER ALTE SÄNGER: Man soll den armen Mann mit reinem Herzen höher schätzen
als den Reichen!
SCHOLAR 1: König Geld
SCHOLAR 2: ist der Herr auf dieser Welt.
SCHOLAR 1: Krieg und Frieden
SCHOLAR 2: hat er entschieden.
SCHOLAR 1: Prozesse beendet
SCHOLAR 2: dem, der reich gespendet.
SCHOLAR 1: Er kriecht und lobt.
SCHOLAR 2: Er droht und tobt.
SCHOLAR 1: Ist stets verlogen.
SCHOLAR 2: Hat stets betrogen.
SCHOLAR 1: Bricht jeden Eid!
SCHOLAR 2: Und stürzt ins Leid!
DER ALTE SÄNGER: Wir Menschen sind doch alle aus dem gleichen Stoff gemacht.
Uns nährt die gleiche Speise, wir atmen dieselbe Luft. Wer mag da den Herrn vom
Knecht unterscheiden? Selbst wer vor dem einen niederkniet und den anderen mit
Füßen tritt, wird eines Tages doch nur mehr Gerippe finden, eins wie das andre von
Würmern zerfressen. Wo ist da der Unterschied?
Christian Teissl
unter Verwendung von:
Carmina Burana [nach der neuhochdeutschen Übertragung von Ernst Buschor] und Walther von
der Vogelweide, Unmutston 1, Wiener Hofton 6 und 7
sowie ferner der anonymen Dichtung Die Geschichte von den