Die Künstler*innen Simon Nagy und Lia Sudermann, Foto: Reithofer Media

17. Juni 2024 / Eva Tropper

Kein Wunder

Ausstellungen | Kunsthaus Graz | Museum für Geschichte

Der Essay-Film Kein Wunder von Lia Sudermann und Simon Nagy bildet die Klammer zwischen "Alles Arbeit" im Museum für Geschichte und der parallel gezeigten Ausstellung "24/7. Arbeit zwischen Sinnstiftung und Entgrenzung" im Kunsthaus Graz. Als künstlerische Intervention in das Fotoarchiv Blaschka verbindet der Film dabei Themensetzungen beider Ausstellungen, die sich auf unterschiedliche Weise – historisch und gegenwartsbezogen – mit gesellschaftlich relevanten Fragen zur Verfasstheit der Arbeitswelt auseinandersetzen.

Eva Tropper (Kuratorin der Ausstellung “Alles Arbeit” im Museum für Geschichte, ET): Das Thema der Fürsorge – als gesellschaftlich unverzichtbare, aber entwertete und unsichtbar gemachte Arbeit – beschäftigt euch schon länger, mindestens seit eurem vielfach ausgezeichneten Essay-Film „Invisible Hands“. In dieser Arbeit beschäftigt ihr euch mit Super-8-Filmen, so wie man sie kennt: Urlaubsszenen, Familienessen, Mütter mit Kinderwägen. Auch die Pressefotos aus dem Fotoarchiv Blaschka, die die Basis für euren neuen Film waren, zeigen uns vollkommen vertraut erscheinende Bildwelten. Was sind eure Zugänge und Strategien, diese Bilder sozusagen „gegen den Strich zu bürsten“ und Sorgearbeit dort sichtbar zu machen, wo man es nicht gewohnt ist, sie zu sehen?

 

Lia Sudermann (Künstlerin, LS): Die Arbeit mit Archivmaterial interessiert uns, weil sie immer einen doppelten Blick ermöglicht: Zum einen können wir aus unserer gegenwärtigen Perspektive auf historisches Material und die darin kristallisierten Bilder von Alltag, Zusammenleben und Familie blicken. Und zum anderen können wir sie umgekehrt ebenso als Lektüreschlüssel für unsere gegenwärtige Situation heranziehen, indem wir fragen: Was hat sich verändert? Was sieht immer noch so aus wie damals? Und was mag zwar anders aussehen, ist im Kern aber doch immer noch gleich.

 

Simon Nagy (Künstler, SN): Unser Zugang zu Archivmaterial ist ein assoziativer. Während sich die Ausstellung „Alles Arbeit“ akribisch den Bilderserien, den Kontexten ihrer Entstehung und ihrer Veröffentlichung in der Kleinen Zeitung annimmt, wählen wir eine andere Art der Auseinandersetzung mit dem Material: Wir setzen uns selbst als Filmemacher:innen und Sprecher:innen in eine Beziehung zu den Bildern. Wir schauen, was passiert, wenn wir unsere Auseinandersetzungen mit reproduktiver Arbeit, dem Sorgestreik und der Kleinfamilie mit diesen Fotos verknüpfen. Im Idealfall bürsten wir dabei nicht nur die Bilder, sondern auch unsere Wahrnehmungen von Gegenwart und unsere eigenen theoretischen Gewissheiten gegen den Strich. Beim Durchschauen des Fotoarchivs Blaschka haben wir zum Beispiel lange Zeit gesagt, dass es ausschließlich Kleinfamilien sind, die abgebildet werden. Bis wir irgendwann gemerkt haben, dass das überhaupt nicht stimmt und dass immer wieder Bilder zu sehen sind, aus denen die Konstellation des Zusammenlebens gar nicht so klar hervorgeht. In solchen Fällen merken wir, dass manche unserer Thesen schlicht nicht standhalten, wenn wir sie am Material testen, und dass wir dementsprechend manche Gedanken ganz neu formulieren müssen.

ET: Eure Stimmen sind im Film als Voice-over präsent, der Ton ist nahe am Sprechen, an einer Alltagssprache. Ihr unterhaltet euch gewissermaßen über die gezeigten Bilder. Wie habt Ihr diesen ganz eigenständigen methodischen Zugang eines Dialogs über das, was man sieht, entwickelt? Und wo seht Ihr die Stärken dieses Zugangs?

 

SN: Entwickelt haben wir diese Methode im Rahmen unseres ersten gemeinsamen Films „Invisible Hands“, und da ist das eigentlich aus einer ganz pragmatischen Notwendigkeit heraus geschehen. Und zwar haben wir während des ersten Covid-Lockdowns am Film zu arbeiten begonnen, und weil wir beide gepflegt haben, waren wir sehr isoliert und es war uns nicht möglich, uns zu treffen und hinter dem gleichen Bildschirm zu arbeiten. Deshalb haben wir angefangen, uns Sprachnachrichten mit grob dazu geschnittenem Filmmaterial hin und her zu schicken – und haben daraus dann auch das Voiceover für den finalen Film destilliert.

 

LS: Diese Art, miteinander in Dialog zu sein, gefällt und reizt uns, weil wir damit direkt aufeinander reagieren können, uns auch widersprechen können und generell eine sprachliche Herangehensweise ausprobieren können, die nicht so perfekt geskriptet und aalglatt eingesprochen ist wie viele Essayfilm-Voiceover. Das wirkt auf uns oft enorm unpersönlich und behauptet eine Neutralität, die es aber so ja gar nicht gibt. Wir schätzen beide das freie Sprechen und Live-Denken sehr, auch als ästhetisches Mittel. Die Dialogform erlaubt uns, genau damit zu experimentieren.

 

SN: Wir sprechen ja immer miteinander, wenn wir Sachen verstehen und durchdenken. Das wird aber oft unsichtbar gemacht, wenn in Texten oder künstlerischen Arbeiten am Ende immer nur eine autoritative Stimme übrig bleibt. Uns gefällt das Dialogische, weil es unsere Filme auch angreifbarer macht, weil mehr Löcher zwischen den einzelnen Texten bleiben. Dazu gehört auch, dass es im Voiceover jetzt manchmal Stellen gibt, von denen wir uns dachten, wir könnten es besser oder präziser formulieren, aber als wir das Audio dann nochmal neu aufgenommen haben, hat es einfach nicht funktioniert. Für den Modus braucht es manchmal einfach den ersten Moment, in dem man einen Gedanken formuliert, auch wenn er dann unvollständig bleibt.

 

KH: Lia, du bist selbst eine junge Mutter – dein Baby hat in der neuen Arbeit Kein Wunder auch einen stimmgewaltigen Auftritt. Ich erinnere mich an eine junge, aufstrebende Künstlerin, die mir erzählt hat, wie schockiert ihre Galeristin reagiert hat, als diese mitbekam, dass die Künstlerin ein Kind erwartet. „Deine Karriere ist vorbei“, hat sie damals zu hören bekommen. Tatsächlich bedeutet eine Schwangerschaft für viele Frauen, und für Künstlerinnen im Besonderen, meist einen Einschnitt in der beruflichen Laufbahn. Das rührt meist nicht nur daher, dass man schlichtweg weniger Zeit für das Schaffen von Kunst hat, sondern dass die jungen Mütter aus der Wahrnehmungssphäre der Kunstszene treten, die sich oft in Abendveranstaltungen, Ausstellungseröffnungen und anderen Netzwerktreffen manifestiert. Man könnte der Kunstwelt also durchaus einmal mehr den Vorwurf machen, anzukreiden und dabei völlig gegenläufig zu handeln. Anstatt Künstlerinnen zu fördern, die sich in der schwierigen Situation befinden, zwei Leben miteinander vereinen zu müssen, vergisst man auf sie.

Wie nimmst das wahr? Ist die Doppelfunktion als Künstlerin und Mutter für dich herausfordernd? Und wie sehr wird das für dich auch zu einem Ausgangspunkt künstlerischer Reflexion?

 

LS: Die Kunst, die ich mache, hat viel mit der Situation zu tun, in der ich mich befinde, sie ist immer auch sehr persönlich. Von daher kommen meine Schwangerschaft und mein Muttersein in meinen Arbeiten vor. Ich mache neben Filmen auch Kabarett und Performance und da geht es dann auch um diese Themen. Nicht nur als Ausgangspunkt für Kritik, sondern auch um das, was lustig daran ist und Spaß macht. Umstandsklamotten, den Bauch als Baustelle oder Stillen beispielsweise.

Aber klar, ich finde es auf vielen Ebenen herausfordernd. Nicht nur organisatorisch, sondern auch psychisch: Wie lassen sich die verschiedenen Rollen mit ihren jeweiligen Ansprüchen zusammenbringen? Für jeden Arbeitsschritt, ob es eine E-Mail oder eine Audioaufnahme ist, muss ich mir Zeit freischaufeln, aber ich muss mir eben auch den Kopf freischaufeln. Außerdem erwartet man von sich, wenn man selbstständig ist und obendrein auch noch Kunst macht, also quasi das Hobby als Beruf und Berufung und so, immer den hundertprozentigen Einsatz und ist es auch gewohnt, dass alle anderen den bringen. Aber mit Kind geht das nicht mehr, da muss und will ich die Ansprüche einfach runterschrauben.

Das Herausfallen aus der „Wahrnehmungssphäre der Kunstszene“, wie du sagst, ist auch ein wichtiger Punkt. Im Kulturbereich, egal ob Bühne oder freie Kunst, läuft so viel über informelles Netzwerken, vor allem eben auf Abendveranstaltungen. Da bin ich dann plötzlich nicht mehr dabei. Einerseits werde ich nicht gesehen, andererseits bekomme ich nicht mehr mit, was los ist. Das ist auch schwierig für den Selbstwert und das Selbstverständnis: Ich trau mir weniger zu, weil ich das Gefühl habe, ich hab doch eh keine Ahnung und ich gehöre nicht mehr wirklich dazu. Gleichzeitig ist mir wichtig zu betonen, dass ich in einer sehr privilegierten Situation bin. Mein Freund und ich versuchen uns das Elternsein fair aufzuteilen. Wenn er nicht auch selbstständig wäre, dann ginge das nicht so einfach. Und ich bekomme Unterstützung von meiner Familie, denn nur von meiner Kunst allein könnte ich nicht leben, auch nicht wenn ich nebenher jobbe und in anderen Bereichen Geld verdiene. Eine eigene Familie zu haben und gleichzeitig Kunst machen geht bei mir nur mit familiärem Background. Viele, die den nicht haben, hören mit der Kunst als Beruf spätestens dann auf, wenn sie Kinder bekommen. Sie müssen sich eine „echte“ Lohnarbeit suchen, wo ein regelmäßiges Einkommen garantiert ist.

Foto: N. Lackner/Kunsthaus Graz

ET: Spannend ist ja auch, was im Prozess zwischen euch und uns, als „verwahrende Institution“ des Archivs von „Foto Blaschka“ passiert ist. Denn als wir euch die Digitalisate der Fotoserien übermittelt haben, die unsere Auswahl für die Ausstellung „Alles Arbeit“ darstellten, da ist das Prinzip Zufall ins Spiel gekommen: Auf den Archivbögen befanden sich noch andere, nicht dem Bereich weiblicher Arbeit zugeordnete Serien, die zufällig auch noch da waren. Und ihr habt begonnen, auch mit diesen zu arbeiten. Was hat euch dazu bewogen und wo seht ihr den Mehrwert dieser zufallsgeleiteten Intervention ins Archiv, der damit möglich wurde?

 

LS: Unser Zugang zu Archivmaterial lautet, alle archivierten Material in einem ersten Schritt als gleich wichtig und gleich interessant zu sehen. Um dann nämlich in einem zweiten Schritt aus ihrer Gemeinschaft heraus Logiken ableiten zu können, nach denen wir sie neu zusammenstellen können. Wir wollen ihnen also nicht bereits mit einer vorab aufgesetzten Brille begegnen, sondern schauen, welche Nachbar:innenschaften – auch unorthodoxe oder ungewohnte – sie selbst aufmachen. Uns ist es wichtig, die Bilder oft und immer wieder anzuschauen, um eben nicht nur das zu finden, wonach wir im Vorfeld schon suchen, sondern auch Feinheiten, die wir beim ersten Mal übersehen haben, oder Spannungen zuzulassen, die sich im Laufe des Arbeitens ergeben.

 

SN: Insofern waren wir total glücklich über die Bilder, die wir zusätzlich zu den von euch ausgewählten Serien auf den Abzügen gefunden haben. Ursprünglich haben wir die Bilder von euch ja in nach Thema strukturierten Ordnern erhalten; als wir sie dann nochmal ganz ungeordneten, einfach nach Archivnummer gereiht, zugeschickt bekommen haben, hat das für uns die Arbeit lustigerweise erleichtert, weil die Fotos nicht bereits in konkrete Beziehungen gesetzt waren. Es hat sich neben Bildern von spielenden Kindern auf einmal Industriearbeit getummelt und danach kam ein grinsender Hund. Für wissenschaftliche Arbeit ist so eine Unordnung nicht hilfreich, für unseren assoziativen Zugang, der gern auch mit kontraintuitiver Bebilderung, also einer Ton-Bild-Schere, arbeitet, war es ein Traum.

 

LS: Und gerade in der Differenz der Bilder untereinander wird ja manches sichtbar, das sich dann als total zentrale These herausstellt: In unserem Film etwa, dass Männer in dem Material oft in großen Gruppen im öffentlichen Raum herumstehen, während Frauen total viel allein und in häuslichen Settings abgelichtet sind, vor allem in der Küche. Es geht also natürlich nicht rein um Freude an der Assoziation, sondern auch um Momente des Vergleichs, die erst möglich werden, wenn viel, viel, viel Sichtungsarbeit bereits passiert ist.

 

KH: Simon, von dir wird demnächst ein Buch erscheinen, das den Titel Zeit abschaffen trägt. Zeit ist ein Faktor, der eine große Rolle spielt, wenn man über Arbeit nachdenkt oder spricht – vielfach sogar eine größere als Geld. Unbezahlte Sorgearbeit ist ein rund-um-die-Uhr-Job, 24/7 (um auf den Titel der Ausstellung im Kunsthaus Graz anzuspielen). Siehst du eine Verbindung zwischen der kapitalistischen Herangehensweise einer Rund-um-die-Uhr-Verfügbarkeit und dem Hausfrauen-Dasein, das in den 1950er- bis -70er-Jahren so propagiert wurde? Oder anders gefragt: Was haben Familienmodelle mit Kapitalismus zu tun?

 

SN: Ich versuche, im Buch das Ende der Arbeit, die Aufhebung von Familie und die Abschaffung der Zeit als miteinander verwandte Begehren darzustellen. Das war nicht von Anfang die These, sondern ich kam bei der Arbeit am Text vom einen aufs andere: von einer Kritik der Arbeit zu einer Kritik der unbezahlten Arbeit in der Familie, und von einer Kritik der Familie zu einer Kritik der kapitalistischen Zeitherrschaft.

Familie und Kapital erweisen sich in diesem Sinn als unglaublich eng miteinander verzahnt. Es fällt so leicht zu glauben, dass wir immer schon so gelebt haben, wie wir heute leben, dabei sind Kleinfamilien total junge Erfindungen. Zu Beginn der Industrialisierung, also Anfang des 19. Jahrhunderts, haben Männer und Frauen noch gleichermaßen in den neuen Fabriken gearbeitet, aber die menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen haben schnell dazu geführt, dass große Teile der arbeitenden Klasse schlicht und einfach starben – und dass große Teile der überlebenden Arbeiter:innen in massive Arbeitskämpfe traten. Darauf wurde mit einer Sozialreform reagiert, die die Arbeitsstunden von Frauen drastisch verringerte. Sie wurden auf diese Weise praktisch in die Häuslichkeit geschickt und damit beauftragt, sich daheim um die Erhaltung und Reproduktion der männlichen Arbeitskraft zu kümmern.

Die Herausbildung der Kernfamilie, mit arbeitendem Mann und unbezahlter Hausfrau, war somit eine direkte Reaktion auf Klassenkämpfe und Mittel zu ihrer Beschwichtigung. Auf lange Sicht hat sie sich obendrein als Wundermittel zur noch effizienteren Produktion von Mehrwert erwiesen: In jeder Kleinfamilie wurde eine Arbeiterin daheim abgestellt, deren häusliche Arbeit weder zeitliche Schranken kannte noch vergütet werden musste. Gesellschaftliche Reproduktion, eine der aller zentralsten Arbeiten, die es gibt, findet zum allergrößten Teil nach wie vor unbezahlt und daheim im Privaten statt – und es wird gemeinhin akzeptiert, dass es das ist, was Beziehung und Liebe eben heißen.

 

Hier finden Sie mehr Informationen zu den Ausstellungen “Alles Arbeit” im Museum für Geschichte und “24/7” im Kunsthaus Graz.

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