18. April 2013, Ulrich Becker
18. April 2013, Ulrich Becker
Unerträgliche Qual, gelindert durch Barmherzigkeit, gebrochener Blick und selbstlose Hingabe - das ist der Stoff, aus dem Dramen geschaffen werden. Ein solches Drama ist die „Pflege des heiligen Sebastian“ aus der großen Werkstatt des italienischen Barockmalers Domenico Piola, der kein einsames Genie, sondern Haupt eines Familienbetriebs war, der sog. „Casa Piola“, die im Genua des späten 17. Jahrhunderts das Geschäft glanzvoller Dekoration betrieb.
Mochte die alte Seerepublik an der ligurischen Küste, vor Jahrhunderten erbitterte Rivalin Venedigs, ihren Zenit auch längst überschritten haben, auf die Produktion gemalter Größe, die „Große Manier“ (gran maniera) verstand sie sich immer noch.
Das Gemälde zählt zu den weniger bekannten Schätzen der Grazer Altmeistersammlung, der Alten Galerie, die schon seit 2005 in Schloss Eggenberg beheimatet ist. Vor sechs Jahren, 2007, wurde es erstmals aus der Versenkung geholt, restauriert und im Rahmen einer kleinen Ausstellung („Heroen und Heilige“) in Schloss Eggenberg gezeigt. Seinerzeit erhielt es folgenden Text:
Der Legende nach erlitt der römische Offizier Sebastian, wegen seines Bekenntnisses zum Christentum unter Kaiser Diokletian das Martyrium
Von Pfeilen durchbohrt, überlebte er zunächst, weil die hl. Irene ihn heimlich pflegte. Später wurde Sebastian wiederum angeklagt und getötet. Der Betrachter soll den Schmerz des Märtyrers nachvollziehen und dessen Standhaftigkeit zum Vorbild nehmen: constantia. Irene gibt ein Beispiel der Barmherzigkeit: misericordia. Sebastian ist einer der großen Pestpatrone. Die Pfeile symbolisieren die Ausbreitung der Epidemie. Besonders betroffen waren die großen Hafenstädte wie Venedig und Genua, die Heimat des Malers.
Ein typisches barockes Heiligenbild also, das uns sofort fesselt. Allein der Übergang vom stabilen Stand des Gemarterten zum langsamen Hinsinken – das will gut in Szene gesetzt sein und fordert die Konkurrenz heraus. Lange vor Piola stand das Sebastians-Motiv schon bei den ganz Großen des großen Maßstabes hoch im Kurs: Peter Paul Rubens und Anton van Dyck, diesen beiden Giganten der flämischen Malerei, die übrigens auch mit Genua einiges zu schaffen hatten. Auch die ganz Großen des kleinen Maßstabs, die Meister der Bronzeplastik des frühen Barock, fanden hier eine Bewährungsprobe ihres Könnens: der Florentiner Pietro Tacca oder der Flame François Duquesnoy.
Gleichzeitig fordert uns das Bild zum Widerstand heraus. Hier soll ich vereinnahmt werden, denkt man sich unwillkürlich – ist das legitim? Ja, denn sonst wäre ausnahmslos jeder Überzeugungsversuch illegitim. Nicht nur jeder Werbestratege weiß: Auch das, was wir nur beiläufig wahrnehmen, beschäftigt uns, prägt und manipuliert uns auch. Maler und Bildhauer waren gerade im 16. und 17. Jahrhundert routinierte Regisseure, die oft ihre Angehörigen mit beschäftigten, Domenico Piola und seine „Firma“ ganz sicherlich. Von einem noch berühmteren Vorgänger, von Venedigs Großmaler Tintoretto, weiß man, dass er zur Vorbereitung der Lichtregie für seine gemalten Dramen mit Miniaturbühnen und selbstgekneteten Figürchen hantierte.
Alles nur Theater? Oder eine Performance, wie man heute sagen würde? Ja, es ist nichts anderes. Aber ein Schauspiel, das ernst genommen werden will. Und das ist nur dann der Fall, wenn das Spiel zugleich ernst ist, ihm also Herrschaft über das eingeräumt wird, was man „Gefühlshaushalt“ nennt.
„Daher muss man denken, dass jemand, der solch tragisches Schauspiel sieht, sehr bald, obwohl er nicht an diesen Trübnissen und Schmerzen teilhat, außer sich ist, mit trauriger, melancholischer und in gewisser Weise auch erschreckter Miene.“
So der Mailänder Maler Giovanni Paolo Lomazzo in seinem „Traktat über die Kunst der Malerei, der Bildhauerei und der Architektur“ von 1584. Dies galt auch ein, zwei Jahrhunderte später. Keine Angst vor eingebildeten Verbotstafeln der Aufklärung. Die gibt es nämlich nicht. Denis Diderot, Jesuitenschüler und Bannerträger der Pariser Enzyklopädisten, von Autor Philipp Blom unlängst (2011) flott zum „bösen Philosophen“ geadelt, trug noch dicker auf:
„Rühre mich, mach mich staunen, zerreiß mir das Herz, lass mich zittern, weinen, staunen, mich entrüsten – dann erst erquicke meine Augen!“
“Schiffbruch mit Zuschauer“, hat das der moderne Philosoph Hans Blumenberg genannt. Und dieser moderne Zuschauer, dem gerne Teilnahmslosigkeit nachgesagt wird, hat die Lektion von der compassio, dem Mit-Leiden, nicht verlernt. Nicht umsonst hieß das Kino früher „Lichtspiel-Theater!“ Wer wollte jenen Total-Kameraschwenks, wie sie in Dr. Schiwago oder Vom Winde verweht eine ganze Geschichte erzählen, ihre Wirkung absprechen? Leinwand bleibt Leinwand, und Regisseur bleibt Regisseur, ob Tintoretto oder David Lean.
Die Skala ist also breit: Sie reicht vom Rührstück bis hin zur moralischen Empörung – nur wagt man der Empört-Euch-Rhetorik gegenüber nicht so schnell, von Manipulation zu sprechen. Übrigens reicht auch das heimische Wohnzimmer-TV zum privaten Emotionstheater. Es hat eben nicht nur das Dumme, sondern fast alles, was vors Auge gestellt wird, ein magisches Recht. Der Geist muss deswegen aber kein Knecht bleiben.
Veranstaltungstipp:
Der durchdringende Blick auf den Körper, Gespräch und Spezialführung zum internationalen Slow Art Day
27.04.2013, 12:00 Uhr