Lieblingsmakel. Ein Projekt von Katharina Diem für die BIX-Medienfassade am Kunsthaus Graz. Foto: Johannes Diem

25. Mai 2020 / Barbara Steiner

Physischer contra virtueller Raum?

Kunsthaus Graz

#KunstimNetz: Digitale Kulturangebote, wohin man schaut. Selbst Kultureinrichtungen, die bislang nicht durch besondere Nähe zu digitalen Kulturen aufgefallen sind, rüsten sprichwörtlich auf: virtuelle Rundgänge durch Sammlungen, Online-Kunstvermittlung, digitale Kunstprojekte. Der Auszug der Kultur (und Kunst) ins Netz scheint unausweichlich. Was würde ein solcher Umbau bedeuten? Katrin Bucher (KB), Martin Grabner (MG), Katia Huemer (KH), Elisabeth Schlögl (ES), Barbara Steiner (BS), Anita Brunner (AB) äußern sich bis zur Wiedereröffnung des Kunsthauses wöchentlich über Digitalisierung im Kulturbereich, Chancen und Risiken.

KH: Die Zeit erfordert es, neue Wege und Formen zu suchen, reale Zusammenkünfte und „echte“ Erlebnisse – denn darin unterscheidet sich der Kulturbetrieb schließlich so grundlegend von zu Hause konsumierbarer Unterhaltungsindustrie wie Netflix und Co. – durch virtuelle zu ersetzen. Zwar spielen Internet und soziale Netzwerke nicht erst seit Corona für Kunst eine Rolle, doch in der gegenwärtigen Situation des „Social Distancing“ manifestieren sie sich als unverzichtbare Übergangsorte, wo Rezeption und Reflexion von Kunst und gesellschaftlichen Fragestellungen stattfinden können.

Barbis Ruder, “#likemetoo”, 2019

BS: Gehst du davon aus, dass die physischen Orte wieder an Bedeutung zurückgewinnen werden, dass die gegenwärtigen Aktivitäten im Netz nur vorübergehender Art sind? Peter Weibel sieht in den physischen Orten „übersteigerte bizarre Architektur-Signaturen, bereits geschaffen im Bewusstsein des Todes der Unterhaltungsformen der Nahgesellschaft“, die „sich in Kürze als überflüssig erweisen“ werden. Für ihn wird nun endlich das lokale Massenpublikum entfernt, „das ohnehin schon lange überflüssig war“. Denn Geld würde ja heute vor allem in der Unterhaltungs- oder Sportindustrie mit dem virtuellen, nicht lokalen Massenpublikum verdient. (Peter Weibel, Virus, Viralität, Virtualität, Neue Zürcher Zeitung, 20.3.2020)

ES: Ich verstehe diese Entweder-Oder-Haltung nicht. Peter Weibel ist in seiner Haltung schon sehr radikal. Ein reales Erlebnis ist auch mittels Internetmedien möglich und hat andere Qualitäten als ein reales Erlebnis in einem Ausstellungsraum oder Museum. Grundlegend finde ich dieses Denken in „Abschnitten“ schwierig – vom Industriezeitalter ins Informationszeitalter ins Konzeptzeitalter … von der Nah-Gesellschaft in die Fern-Gesellschaft … so als ob das, was war, je verschwinden würde.

KH: Ich sehe das auch so, was das Denken in Abschnitten angeht. Wir tendieren dazu, die Dinge chronologisch zu betrachten. Der deutsche Soziologe Gerhard Schulzes analysierte sehr gut die Bedürfnisse der „Erlebnisgesellschaft“, die unser „Leben vor Corona“ in der westlichen Welt bestimmt hatte. Er sprach dieser übrigens Geduldfähigkeit und Solidaritätsgefühle ab. Zwei Eigenschaften, die wir alle gerade unter Beweis stellen sollen. Ich denke, selbst wenn wir uns akut von einer Pandemie bedroht fühlen, lässt sich unser Denken und Handeln nicht von heute auf morgen ins Gegenteil umkehren. Dass „reale Erlebnisse“ im Netz ebenso funktionieren wie im Ausstellungsraum, wage ich allerdings zu bezweifeln. Ich glaube an die Kraft des Originals und an das dringende Bedürfnis nach echten Versammlungsorten. Ich meine damit keineswegs, dass man Online- oder Social-Media-Projekten den künstlerischen Wert absprechen sollte. De facto lassen sich auch über solche Kanäle Erlebnisse schaffen. Was dabei aber fehlt, sind körperliche Elemente, Raumerfahrung und nicht zuletzt das gemeinsame Erleben – was beispielsweise für Performance eine große Rolle spielt.

Ron Athey und boychild, Auszüge aus “pistol poem, Genesis P-Orridge EsoTerrorist and Geometric – flourishes”, 2019, Foto: Universalmuseum Joanneum/J.J. Kujek

MG: Ich finde es spannend, wenn künstlerische Arbeiten im virtuellen Raum wieder in den physischen Raum zurückfinden oder verschränkt funktionieren, wie es bei unseren Projekten von Barbis Ruder, Oliver Hangl oder Michikazu Matsune der Fall ist. So werden Parallelen sichtbar und Konzepte im Kontext des jeweils anderen Raums deutlicher lesbar. Für mich haben Kunstprojekte, die genuin für den virtuellen Raum konzipiert wurden, in ihm entstanden sind und sich mit ihm beschäftigen, durchaus großes Potenzial. Sie finden sich unter den unter Zeitdruck entwickelten Online-Aktivitäten allerdings nur selten. Diese zu entwickeln und voranzutreiben ist eine wichtige Aufgabe. Sie werden aber nicht zu den von Peter Weibel bewusst provokant herbeigeschriebenen „gigantischen leeren Spielstätten“ führen, denn sie konkurrieren nicht mit dem physischen Raum, sondern erweitern ihn und führen besonders im Diskurs und in der Verschränkung der spezifischen Qualitäten von physischem und virtuellem Raum zu faszinierenden künstlerischen Arbeiten und Erkenntnissen. Video never killed the Radio Star.

Kategorie: Kunsthaus Graz
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