Vorkrieg

Der Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn hatte in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg einen raschen Modernisierungsprozess durchlaufen, der unter der Besonderheit der sprachlichen, religiösen und kulturellen Vielfalt nicht zur (Zwangs)-Übereinstimmung von Staat, Nation und Sprache führte, sondern Differenz zuließ. Besonders „Wien um 1900“ wurde weltweit gerade wegen seiner Heterogenität als Sonderfall der kulturellen Hochblüte empfunden.

General-Karte der Steiermark, R. Lechner, Wien nach 1900, Leihgabe von Nicole-Melanie Goll, Graz

Graz, die Hauptstadt des zweisprachigen Kronlandes Steiermark (ein Drittel der damaligen Steiermark war slowenischsprachig) positionierte sich als „größte deutsche Stadt“ der Monarchie gegen die Vielfalt Wiens. Zwar siedelten sich auch hier viele Menschen an, darunter Slowenen aus der Untersteiermark, diese sahen sich aber einem großen Assimilationsdruck ausgesetzt und nahmen in der Folge rasch – spätestens im Generationswechsel – Deutsch als Umgangssprache an. Daneben zogen aus Wien pensionierte Beamten und Offiziere zu, denn das Leben war billiger als in der Residenzstadt und man sprach fast durchgängig Deutsch.

Deutscher Gruß aus der Steiermark

Graz verstand sich als deutsches Bollwerk in der Wissenschaft und in der Kunst. Die Studierenden verärgerten 1895 den Kaiser nachhaltig mit dem Absingen des Deutschlandlieds bei der Eröffnung der neuen Karl-Franzens-Universität. In den verbleibenden 21 Regierungsjahren betrat er diese Universität nicht mehr. Das Theater (Opernhaus) ist bis heute ein in Stein gemeißeltes Bekenntnis zum Deutschtum. Und die bildenden Künstler der Stadt blickten nicht nach Wien, sondern nach München.

 

Auf das Land, vor allem in die Untersteiermark, wurde dieser Deutschnationalismus durch Vereine getragen, allen voran durch den Deutschen Schulverein. Entlang der imaginierten „Sprachgrenze“ wurde zur „Verteidigung“ der deutschen Kultur um jeden Schulstandort, ja praktisch um jedes Schulkind gekämpft. Das Gebiet wurde, obwohl innerhalb des Staates, ja sogar innerhalb des Kronlandes positioniert, als „Grenzland“ verstanden.“

Auseinandersetzungen zwischen den einzelnen Nationalitäten wurden auch in die Vereine getragen. 1880 als Folge der Sprachverordnungen gegründet, diente der Deutsche Schulverein als „Schutzverein“ der Deutschen vornehmlich in den Grenzgebieten der Donaumonarchie. Seine Mitglieder trugen dieses Knopfabzeichen.
Die Positionierung der Stadt Graz als „deutscheste Stadt der Monarchie“, wie Hubbard sie bezeichnete, spiegelt sich auch in den zahlreichen Denkmälern, Bauten und Straßennamen dieser Zeit wider. So kann auch die um 1900 im Stadtpark gepflanzte „Bismarck-Eiche“ als Sinnbild der deutschnationalen Gesinnung gesehen werden. In diesem Kontext ist auch der hier abgebildete Entwurf eines „Bismarckturms“, der am Plabutsch errichtet werden sollte, zu verstehen. Beide Initiativen sind sichtbare Zeichen der deutschnationalen Bewegung und ihres Selbstverständnisses in der steirischen Landeshauptstadt.
1902 versammelten sich mehr als 17.000 Sänger aus den deutschsprachigen Gebieten der Monarchie in Graz. Das sogenannte „Deutsche Sängerbundfest“, das insgesamt sechste Treffen dieser Art, war jedoch vielmehr eine politische Demonstration des deutschnationa-len Milieus als ein harmloser Gesangswettbewerb. Für diese Veranstaltung wurde eine ei-gene Festhalle aus Holz am Gelände der heutigen Grazer Messe errichtet, die danach wieder abgebaut wurde.

Kaiser Franz Joseph, seit 1848 auf dem Thron, regierte bei Kriegsausbruch seit 66 Jahren. Er hatte sich im Amt verbraucht, seine Anteilnahme am Geschehen war oft nur formaler Akt. Wie in einem Schattenbild war seine Macht in den letzten Jahren eher symbolisch. Aber er hielt das Reich zusammen und bot den zentrifugalen Kräften Paroli. Im Zeitalter des Nationalismus war es diese Symbolfigur, die neben der Bürokratie und dem Heer das Reich zusammenhielt.

Kaiser Franz Joseph wirkte bis zu seinem Tod als Integrationsfigur des Vielvölkerstaates. Er war sicherlich die am meisten vermarktete Figur der Habsburgermonarchie. Büsten, Gemälde, Bildpostkarten, Geschirrserien, Broschen, Abzeichen und Anstecknadeln wurden mit seinem Konterfei versehen und in Umlauf gebracht. Anlässlich seines 50-jährigen Thronjubiläums im Jahr 1898 wurde in Wien eine „Jubiläumsausstellung“ gezeigt, die als eine Art Leistungsschau von Gewerbe, Industrie und Technik konzipiert wurde und sich zu einem regelrechten Publikumsmagneten entwickelte. Bei dieser Ausstellung gab es auch verstärkt Möglichkeiten, „Merchandising-Artikel“ des Jubilars vor Ort zu erwerben. Dieser Füllfederhalter dürfte einer jener speziell für diese Veranstaltung entwickelten Gegenstände gewesen sein. Er ist mit einer goldenen Spitze versehen und mit dem eingravierten Porträt Kaiser Franz Josephs geschmückt. Am Ende des Füllfederhalters befindet sich eine Ausformung, die bei näherer Betrachtung und entsprechender Beleuchtung das Konterfei des Monarchen preisgibt.

1914, 48 Jahre nach der Schlacht von Königgrätz und einem halben Jahrhundert der rasanten Globalisierung, hatten sich gleichzeitig Ängste und Erwartungshaltungen aufgebaut. Ängste, im Prozess der Modernisierung zu den Verlierern zu gehören; und Erwartungen, dass ein „Stahlgewitter“ verunsicherte Männlichkeiten wieder härten und dem Zeitalter der Vieldeutigkeiten wieder Strukturen geben könnte. Ein Krieg sollte die verunsichernden Ambivalenzen in klare Bilder von Gut und Böse, von Freund und Feind auflösen können.

Museum für Geschichte

Sackstraße 16
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