Das Ms2 in der Nachbarschaft des Einkaufszentrums am ehemaligen Fabrikgelände des jüdischen Kaufmanns Izrael Poznánski

4. Mai 2017 / Elisabeth Schlögl

Futsch in Łódź

Kunsthaus Graz | Kuratieren

(Lautsprache: Wutsch – das Ł ist ein stimmhafter Zischlaut, der dem „W“ sehr nahekommt) Vergangenen Sonntag, als der „Big Wirbel“ im Kunsthaus in vollem Gange war und ich vom Filmdreh-Wochenende mit Koki Tanaka aus Zwentendorf zurückkam, habe ich mich von meinen Kolleginnen und Kollegen für einen Monat verabschiedet, um nach Łódź (zu Deutsch: Lodsch) zu fahren. Der translocal-Partner Muzeum Sztuki w Łódźi stellt mir für einige Wochen eine Unterkunft und einen Arbeitsplatz zur Verfügung. Was ich hier mache und was meine Motivation war, nach Łódź zu kommen, erfahrt ihr hier.

Eine Zugreise nach und eine Zeitreise in Łódź

Vor drei Tagen bin ich in Łódź angekommen. Die Zugreise hierher war ein vergnügliches Abenteuer: Insgesamt war ich 18 Stunden lang unterwegs, verpasste ausnahmslos jeden Anschlusszug (4 mal umsteigen) aufgrund von Verspätungen – die Dame im Wiener ÖBB-Reisebüro hat mir, nachdem ich den ersten Anschlusszug verpasste, in weiser Voraussicht ein Ticket nach Łódź ausgestellt, das für alle weiteren Züge gültig war. Dieses Ticket sah am Ende der Reise aus wie ein Abenteuerbericht – zig Schaffnerzwicker in unterschiedlichen Farben, und die Dame in Warszawa Zachodnia hat einen Roman draufgeschrieben, dass es auch ja für die letzte Teilstrecke nach Łódź gültig ist.

Es regnete unentwegt, ich sah viel Wald und viele Sumpflandschaften, im Zug roch es nach nassem Hund und ich lernte schon während der Anreise die weithin betonte Gastfreundschaft der Polen kennen:

Jerzy, der sich meiner erbarmte, eine Station früher mit mir ausstieg, meinen Koffer schleppte, mir eine Reservierung für den nächsten Teilabschnitt besorgte und mir half, den richtigen Bahnsteig zu finden, oder eine Polin, deren Name mir entfiel, die mir ein Ticket für die Straßenbahn schenkte, weil der Automat meine Kreditkarte nicht akzeptierte. Außer den beiden begegnete ich auch noch weiteren hilfsbereiten Polinnen und Polen: Sobald sie mich suchend herumstehen sahen, erklärten sie mir begeistert den Weg – ob sie ihn kannten oder nicht. Manchmal braucht es eben Abzweigungen, um Sicherheit zu gewinnen.

Nicht immer führt der gerade Weg ins Ziel.

Seit zwei Tagen trotze ich dem Wetter – Schneeregen, Schüttregen, Nieselregen, nasse Luft (?), Wind und Kälte – und erkunde die Stadt, ein Raster aus endlos langen, sich kreuzenden Geraden. In meiner Nachbarschaft sind hauptsächlich rote Ziegelbauten – ehemalige Textilfabrikgebäude und Fabrikarbeiterwohnanlagen (Księży Młyn, wörtlich übersetzt: Pfarrers Mühle, die größte Industrieanlage in Łódź).

Ich selbst wohne in einem ehemaligen Fuhrparkgebäude, das zur einer größeren Palastanlage gehört. Sie wurde von der Textilindustriellenfamilie Herbst Ende des 19. und Anfang des 20. Jh., erbaut und gehört heute dem Muzeum Sztuki. Zu sehen sind dort Werke von Alten Meistern, und auch die Wohnräume der Familie Herbst befinden sich hier. Die alten Fabrikanlagen in der Nachbarschaft sind teils revitalisiert und sehr hip (dort haben sich Zahnärzte, Kindergärten, Geschäfte, Designstudios, Ateliers und extravagante Loftbewohner eingemietet), teils leer und verfallen. Die Fabrikruinen sind oft mit Ranken und Bäumen verwachsen und rundherum sind wilde Parks entstanden.

Die Textilindustrievergangenheit von Łódź sieht und erlebt man noch in jeder Ecke.

Das Ms2 in der Nachbarschaft des Einkaufszentrums am ehemaligen Fabrikgelände des jüdischen Kaufmanns Izrael Poznánski

Mein Arbeitsplatz ist im MS2, einer ehemaligen Textilfabrik des sogenannten „King of Cotton“, Izrael Poznánski, in den 1870er-Jahren erbaut – und seit 2000 revitalisiert als riesiges Einkaufscenter, Kino, Casino und eben als Museum für moderne und zeitgenössische Kunst.

Für meinen Geschmack eine sehr schräge Kombination unterschiedlicher Einrichtungen – wer wohl darauf gekommen ist, und warum? Um genau das und noch weitere Dinge herauszufinden, bin ich hier. Mich interessiert, wie Museen und Ausstellungshäuser für zeitgenössische Kunst auf ihre Umgebung und die Menschen in ihrem Umfeld wirken – und umgekehrt.

Um Antworten auf meine Fragen zu bekommen, habe ich bereits am Donnerstag meine beiden Ansprechpartner im Muzeum Sztuki kennenglernt: Agnieszka Pindera (Public Programming) und Leszek Karczewski (Kunstvermittlung). Aufgrund des bevorstehenden langen Wochenendes (1. Mai, Tag der Arbeit und 3. Mai, Nationalfeiertag) waren die beiden etwas kurz angebunden, gaben mir aber Aussicht, nächsten Donnerstag einen ausführlicheren Einblick in ihre Tätigkeiten zu bekommen und ihr Team kennenzulernen. Ich freue mich außerordentlich darauf und werde davon berichten.

Derweil machte ich mich daran, die Umgebung, die Stadt Lodz, weiter zu erkunden. Im Textilmuseum, ebenfalls eine ehemalige Fabrikanlage des Industriellen Ludwig Geyer, habe ich heute einen Einblick in das Leben um 1900 in Łódź bekommen und mehr über die „geldigen“ Zeiten, die erfolgreichen Textilgeschäfte und die Textilherstellung erfahren. Mein persönliches Highlight waren die vielen unterschiedlichen Webstühle im Maschinenhaus.

Ein Mitarbeiter hat mir eine Webmaschine vorgeführt, die um 1915 im Einsatz war. Sie machte einen höllischen Lärm, damals waren 800 Stück dieses Modells in einer einzigen Halle in Betrieb, angetrieben von nur einem Motor. Ich musste an die Strickmaschine von Veronika Persché denken, die vergangenes Wochenende im Kunsthaus beim „Big Wirbel“ aufgestellt war und mit der auch Ghost seine Spielchen spielte und codierte Binsenweisheiten über Textiles ausgesponnen hat. Genausowenig wie ich die Botschaften von Ghost entschlüsseln konnte, verstand ich den Museumsmitarbeiter, der mir mit Begeisterung und vollem Einsatz die Webmaschine erklärte – nur leider auf Polnisch.

 

 

 

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