Original und Kopie

Bildinformationen

Original und Kopie

Die Übernahme von Figurentypen, Motiven oder ganzen Bildkompositionen von anderen Künstler*innen galt in der Frühen Neuzeit keineswegs als plagiatorische Tätigkeit. Vielmehr war es eine Werkstattgepflogenheit. Kopieren war nicht negativ gesehen, sondern als wertvoller Lernprozess. Es gehörte sowohl zum barocken Akademiebetrieb als auch zur traditionellen Werkstattpraxis. Künstler*innen nutzten das Kopieren von Meisterwerken als grundlegende Übung, um Techniken zu erlernen und ihren eigenen Stil zu entwickeln.

Stefano della Bella (1610–1664): Reiter im Profil nach rechts

Eine Serie von elf Rundbildern Stefano della Bellas zeigt Reiter verschiedener östlicher und südlicher Nationalitäten. Stolz präsentieren sie sich und ihr Pferd im Vordergrund einer pittoresken Landschaftskulisse. Für die Zeit und den Künstler typisch ist der sehr tief gesetzte Horizont. Ein spannendes Detail bei diesem Blatt ist die „Rahmung“ einer Standfigur im Hintergrund mit dem erhobenen Vorderbein des Pferdes. Die Reiter sind nicht in einer kämpferischen Handlung wiedergegeben, sondern vielmehr als Kostümfiguren zu verstehen. Sie erinnern an antike Reiterstandbilder, deren Darstellung in der Renaissance und im Frühbarock wieder an Beliebtheit gewann. Della Bellas Serie ist um 1648/50 zu datieren.

Johanna Sibylla Kraus, geb. Küsel (1650–1717): Blick über das Forum Romanum vom Tempel des Antoninus zum Palatinhügel

Laut Bildunterschrift war Johanna Sibylla Kraus – zu diesem Zeitpunkt noch Küsel – 18 Jahre alt, als sie diese Radierung nach einer Vorlage von Stefano della Bella kopierte. Der Italiener hatte die Darstellung 14 Jahre davor geschaffen. Seine Blätter waren bei Sammlern und Kunstkennern des 17. Jahrhunderts europaweit beliebt. 1668 markiert jenes Jahr, in dem erste Arbeiten von Johanna Sibylla Küsel auftauchen. Sie wurde in eine Augsburger Kupferstecher- und Goldschmiedefamilie geboren. Ihr Vater Melchior Küsel war Schüler und Schwiegersohn von Mathäus Merian dem Älteren. Zu ihrer Verwandtschaft zählt u. a. die nur um drei Jahre ältere bekannte Naturforscherin und Blumenmalerin Maria Sibylla Merian.

Johanna Sibylla Kraus, geb. Küsel (1650–1717): Reiter im Profil nach links

Etwa 20 Jahre nach der Entstehung der Reiterserie von Stefano della Bella nimmt sich die Augsburger Künstlerin Johanna Sibylla Kraus, geborene Küsel, diese zum Vorbild und kopiert die Blätter. Dabei hält sie sich an jedes Detail und beweist Gefühl für Tiefenraum und Perspektive. Die Striche sind sicher mit der Radiernadel gesetzt. Kraus übernimmt die kurzen, schnell hingeworfenen Striche ihres italienischen Vorbilds und kommt wie dieses ohne Konturlinien aus. Würde man das Vorbild nicht kennen, hielte man die Radierung für ein eigenständiges Werk.