In memoriam Peter Weibel

Als „Kontinent, den es zu bereisen gilt“ hat Peter Sloterdijk den Museumsdirektor Peter Weibel bezeichnet, und sein Museum, das ZKM Karlsruhe, eines der bedeutendsten und visionärsten Kunstinstitutionen weltweit, als „Raumschiff“. Der herausragende, weltumspannende Theoretiker, Kurator und Künstler widmete fast zwanzig Jahre seines Denkens und Tuns – 1992 bis 2011 – der Neuen Galerie Graz. Als Chefkurator bestimmte er (in enger Zusammenarbeit mit der Leiterin Christa Steinle) das Programm dieser Institution und führte sie zu einem unüberschätzbaren Höhenflug mit internationaler Vernetzung und Gewichtung. Peter Weibel ist am 1. März 2023 verstorben – wenige Tage vor seinem 79. Geburtstag und wenige Wochen vor der Eröffnung seines nun letzten Großprojektes, der Ausstellung und des hochkarätigen Symposiums „The Next Renaissance“ (ZKM Karlsruhe). Die Nachricht lässt uns tieftraurig zurück. Peter Weibel war die Inspirationsquelle, von der wir lernen durften, die uns beflügelt und unser Denken befreit hat.

 

Anlässlich der Präsentation von Weibels künstlerischem Gesamtwerk 2019/20 im ZKM unter dem Titel respektive Peter Weibel (derzeit in Seoul, Südkorea, zu sehen) hat Günther Holler-Schuster einen Text über den hochgeschätzten und verehrten Kollegen verfasst (in: „Springerin“, Heft 1, 2020), aus dem im Folgenden zitiert sei:

 

„Über 400 Werke wurden in der vom ZKM kollektiv kuratierten Präsentation definiert, restauriert und rekonstruiert. Mächtige Gedankengebäude mit weitreichenden Konsequenzen, verdichtet in technologisch höchst anspruchsvollen Versuchsanordnungen – Sprachtheorie, Mathematik, logische Philosophie, visuelle Poesie, experimentelle Literatur, Performance oder die Dekonstruktion filmischer Darstellung bis zur Medienoper –, bilden seit Beginn der 1960er-Jahre bis heute die Grundlagen für ein höchst visionäres Kunstschaffen. Diese Kunstwerke sind nicht in konventionellen Kategorien fassbar. Die Werke existieren kaum und haben selten endgültige Formulierungen zum Ziel. Vielmehr sind sie ,abgelegte Werkzeuge‘ (Bazon Brock), Modelle bzw. Materialisationen komplexer, weit über die Kunst hinausreichender Konzepte. Das Feld des Möglichen überlagert sich mit dem des Faktischen, wenn sich Kunst und Wissenschaft treffen. Weibel war nie am Fetisch Kunst interessiert. Von Beginn an ignorierte er bestehende Hierarchien zwischen ausgestelltem Objekt und BetrachterIn, forderte sein Publikum auf produktive Weise heraus, zwang es zur Interaktion bzw. zur Partizipation und emanzipierte es gleichzeitig. Die Liaison zwischen Theoriebildung und künstlerischer Praxis erzeugt ein offenes Handlungsfeld, in dem Weibel zwischen seinen unterschiedlichen Identitäten switcht – Theoretiker, Künstler, Wissenschaftler, Kurator. Es gilt, Systeme zu entwickeln, die uns unsere Wirklichkeit erklären. Die Wissenschaft tut das, die Kunst, wie Weibel sie meint, ohnehin. Spektakel und Marktkalkül sowie ästhetische Ambitionen sind dabei niemals Ziel. Es ist der Anspruch der Aufklärung, der Weibels Kunst kritisch-subversiv positioniert.

Sein gesamtes Tun ist mit einem tiefen Zweifel an einer bestehenden Conditio Humana verbunden. Gefangen in einem ,Gefängnis von Raum und Zeit‘ (Weibel) befindet sich der Mensch. Für Weibel ist es klar und in der Konsequenz auch möglich, diesen Bereich zu verlassen bzw. ihn wenigstens zu erweitern und Freigänge zu erwirken. Selbst Produkt der Natur, kann der Mensch das nur im Rahmen bestehender Naturgesetze. Diese jedoch erweitern sich stets durch die Entdeckung neuer Naturgesetze. An der Beschleunigung dieses Prozesses arbeitet Weibel seit Beginn seiner künstlerischen Tätigkeit. In der zwischen 1986 und 1988 entstandenen Videoinstallation Gesänge des Pluriversums vereint er die Medien Video, Foto, Film und Computer und visualisiert damit die Techno-Transformation der letzten 200 Jahre. Dabei werden zwischen radbasierter industrieller und datenbasierter postindustrieller Informationsdynamik neue Erfahrungen von Raum und Zeit möglich. Denken, Sprache, Handlung – all das ist vom menschlichen Körper und seinen Funktionen abhängig. Nur eine fragmentierte Realitätswahrnehmung ist uns möglich. Die multiplen Welten, innerhalb derer Weibel hin und her wechselt, lassen ihn auch viele Jobs in unterschiedlichen Bereichen gleichzeitig ausüben. Nirgends fassbar – weder als Person noch als Künstler – ist er scheinbar an vielen Orten gleichzeitig, vielleicht überhaupt ,ortlos‘. Der Körper setzt jedoch Grenzen. Von den Optionen, die sich bieten, kann man oft nur eine auswählen. Das scheint das Dilemma zu sein, jede Wahl unterdrückt unzählige andere Möglichkeiten. Dieses zu brechen, trat Weibel nicht zuletzt auch im Rahmen des Wiener Aktionismus, dem er seinen Namen gab, an. Den Körper voll belasten, obsessiv-ekstatisch mit ihm performen, um sich gleichzeitig von ihm zu befreien, ihn aufs Radikalste untersuchen und ihn damit in neue Dimensionen der Wahrnehmung katapultieren, ihn als Kommunikationsmittel definieren, seine Hinfälligkeit, seine soziale Bedingtheit demonstrieren – damit verstörten die Wiener Aktionisten ihr Publikum auf das Radikalste. Kaum hatte sich der Staub der Explosion gelegt, war Weibel schon unterwegs in Richtung neuer Territorien. Den Körper mit dem Apparat zu fusionieren, die Beobachtung der eigenen Beobachtung zu ermöglichen und damit die Naturgesetze erneut zu sprengen – Peter Weibel als Videopionier mit ,Closed Circuit‘-Installationen. Aktionsvorträge und Fluxus-Aktionen und parallel dazu Forschungen zur ,abstrakten Automatentheorie‘, der Vorform der Informatik, erweiterten die Analyse in Richtung Wahrnehmungsmechanismen und Ergründung des Denkens. Dabei sind die gesellschaftsverändernden Komponenten, die der sozialen Bedingungen und der Machthierarchien, sowie gesellschaftspolitische Utopien zentrale Anliegen, die weit über das konventionelle Kunstwerk hinauswirken.

Wir haben den zu Beginn erwähnten ,Kontinent Peter Weibel‘ erst begonnen zu bereisen. Zug um Zug wird er nun auch in Ausstellungen ,urbar‘ gemacht. Die in Karlsruhe gezeigten Kunstwerke sind vorläufige Annahmen, keine Letztgültigkeiten. Vieles davon war schon in großen Werkschauen – 2004 in der Neuen Galerie Graz, deren institutionelle Bedeutung Weibel über mehr als 20 Jahre hindurch bestimmte, oder 2014 im 21er-Haus in Wien – zu sehen. (…) Institutionskritik und Kritik am Betriebssystem Kunst – Grundanliegen Weibels – manifestierten sich dabei jeweils unterschiedlich. Das Medium Ausstellung ist ihm nicht nur bezogen auf sein eigenes Werk adäquates Werkzeug. In den Werken anderer KünstlerInnen verfolgt er letztlich auch den allgemeinen Erkenntnisgewinn und erprobt dabei neue Formen der ästhetischen Praxis. Es ist ein ständiges Forschen und Reisen zwischen den Stationen des Pluriversums. Das hochkarätig besetzte Symposium, das anlässlich der Ausstellungeröffnung ,respektive Peter Weibel‘ stattfand, (…) verfolgte der Gefeierte aufmerksam. (…) Erkannte er sich in all dem wieder? Immerhin saß er im Vortragssaal des ZKM, dem wohl größten seiner Kunstwerke, das am ehesten der Komplexität seiner Person entspricht. Dieses ,Raumschiff‘, das aus der Zukunft zu uns gekommen zu sein scheint, ist letztlich die Materialisation des Weibel’schen Denkens. Das kann man schwer imaginieren, wenn man sich das hilflose Kriegsflüchtlingskind, das 1944 mit seiner Mutter aus dem Vielvölkerraum der Schwarzmeerküste in den nächsten Vielvölkerraum Österreich kam, vorstellt. Über Lager und Heime ging der Weg bis nach Karlsruhe. Der Kulturhistoriker William M. Johnston kontextualisiert Weibel dementsprechend auch im Vielvölkergemisch Kakaniens, speziell aber innerhalb der in diesem Lande nahezu vergessenen Tradition des formalen Denkens, der Sprach- und damit der Wirklichkeitskritik. ,Weibels primäre Qualitäten entziehen sich der Ausstellbarkeit – seine stetig wache Umsicht und seine unbeirrbare Offenheit für Ereignisse in dem Überraschungsraum, den man die Kunst nennt.‘ (Sloterdijk).“

 

Schließlich sei hier an einige der – zum Teil epochalen – Ausstellungsprojekte und begleitenden Bücher erinnert, die von ihm kuratiert oder auf Weibels Initiative und unter seiner Obhut in der Neuen Galerie Graz entstanden sind. Schon allein die Aufzählung der Titel vermag die Aktualität und die Öffnung zur internationalen Kunst- und Geisteswelt eindrucksvoll zu verdeutlichen, die sowohl die Institution als auch die Stadt Graz und das Land Steiermark dem visionären Wirken von Peter Weibel verdanken:

 

1992: trigon 92: Identität : Differenz. Tribüne Trigon 1940–1990. Eine Topographie der Moderne (mit Christa Steinle); Peter Weibel. Malerei zwischen Anarchie und Forschung; 1993: trigon 93: Kontext Kunst. The Art of the 90’s (mit Christa Steinle); Peter Fend. Ocean Earth. For a world which works; Räume für Kunst – Museumsmodelle. Europäische Museumsarchitektur der Gegenwart (Ausstellung, Symposium); 1994: Felix Gonzalez-Torres / Rudolf Stingel; Drawing Room. Zeichnungen und Skulpturen aus der Sammlung Speck (mit Rudolf Zwirner); Kunst der 90er Jahre. Die neue Sammlung der Neuen Galerie; Michelangelo Pistoletto und Franz West. Labor; Styrian Window. Eine Ausstellung zur Gegenwartskunst in der Steiermark (mit Werner Fenz, Christa Steinle, Günther Holler-Schuster); 1995: DIE ERSTE-Sammlung internationaler Gegenwartskunst; Pittura / Immedia. Malerei in den 90er-Jahren; QUANTUM DAEMON EXHIBITION (Symposium); Louise Lawler. A Spot on the Wall (mit Werner Fenz); Pipilotti Rist; Trigonpersonale – Jeffrey Shaw. Ort – eine Gebrauchsanweisung; Peter Zimmermann. Lose Kopplung; Ein telematisches Museum; 1996: Siah Armajani. Anarchistische Beiträge 1962–1994; Günter Brus. Blitzartige Einfälle in vorgegebene Ideen; SCHWABfleisch. Reliefs und Texte. Eine Ausstellung (mit Ingeborg Orthofer); André Cadere 1934–1978. Unordnung herstellen (mit Dirk Snauwaert); Inklusion : Exklusion. Kunst im Zeitalter von Postkolonialismus und globaler Migration (in Zusammenarbeit mit dem steirischen herbst); 1997: Jenseits von Kunst; Dan Graham. The Suburban City; Andrea Zittel. Living Units; Egon Schiele. Die Sammlung Leopold; Claude Cahun (1894–1954). Selbstdarstellungen; Giulio Paolini. Da oggi a ieri / von heute bis gestern (mit Christa Steinle); 1998: Henri Michaux. Meskalin (mit Victoria Combalia); Kunst ohne Unikat; 1999: Jean Baudrillard. Im Horizont des Objekts; William Kentridge. Arbeiten 1989–1999 (mit Piet Coessens); Der anagrammatische Körper. Der Körper und seine mediale Konstruktion; 2000: Jordan Crandall. Drive; Olafur Eliasson. Surroundings Surrounded (mit Christa Steinle, die erste Museumspräsentation des Künstlers); Manfred Wolff-Plottegg. Plots 1980–2000; 2001: Moderne in dunkler Zeit. Widerstand, Verfolgung und Exil steirischer Künstlerinnen und Künstler 1933–1945 (kuratiert von Günther Holler-Schuster und Günter Eisenhut); Die Cabinette des Dr. Czerny. Der Kosmos der Kunst im Spiegel der Sammlung Norli und Hellmut Czerny; Im Buchstabenfeld. Die Zukunft der Literatur; 2002: Erwin Wurm. Fat Survival – Handlungsformen der Skulptur; Chromophobie. Herbert Brandl – Ein Überblick (mit Günther Holler-Schuster); Collector’s Choice. Internationale Kunst seit 1950. Sammlung Ploil, eine Auswahl (mit Georg Kargl); Günter Brus. Das erotische Testament; In Search of Balkania / Auf der Suche nach Balkanien (mit Roger Conover und Eda Cufer); 2003: M_ARS. Kunst und Krieg (mit Günther Holler-Schuster); Phantom der Lust. Visionen des Masochismus in der Kunst (mit Michael Farin, Christa Steinle, Elisabeth Fiedler); Support. Die Neue Galerie als Sammlung (mit Günther Holler-Schuster); 2004: Günter Brus. Werkumkreisung (mit Monika Faber); Ruth Vollmer & Gego. Thinking the Line (mit Nadja Rottner); Peter Weibel. das offene werk 1964–1979 (kuratiert von Günther Holler-Schuster und Peter Peer); 2005: Zur Vorstellung des Terrors. Die RAF-Ausstellung (mit Klaus Biesenbach, Ellen Blumenstein, Felix Ensslin); 2006: SLUM (mit Christa Steinle und Günther Holler-Schuster); 2007: BIT international. Nove tendencije (kuratiert von Darko Fritz, wissenschaftliche Beratung: Peter Weibel, Margit Rosen); UN/FAIR TRADE. Die Kunst der Gerechtigkeit (mit Günther Holler-Schuster und Christa Steinle); Bernhard Leitner. Moving Heads; 2008: Michael Schuster. For Your Information (mit Elisabeth Fiedler); Otto Beckmann. Zwischen Mystik und Kalkül (mit Peter Peer); Christoph Schlingensief. The African Twintowers (mit Claus Philipp); 2009: Robert Wilson’s VOOM Portraits; Der diskrete Charme der Technologie. Kunst in Spanien (mit Claudia Giannetti und Antonio Franco); 2011: Moderne – Selbstmord der Kunst? (mit Christa Steinle, Gudrun Danzer); Hans Hollein (mit Günther Holler-Schuster); BRUSEUM. Ein Museum für Günter Brus.

                                                                                                                                                                                                            (Gudrun Danzer für die Neue Galerie Graz)

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24. bis 25. Dezember 2023