Pedro Cabrita Reis
Assembly/Versammlung
Ziegel ist der erste, vor etwa 10.000 Jahren vom Menschen unter Verwendung der vier Grundelemente Erde, Wasser, Feuer und Luft künstlich hergestellte Baustoff. Seine besondere Beziehung zum Menschen (homo) verdeutlicht sich im lateinischen Wort für Erde (humus), das der gleichen Wurzel entspringt.
Etwa 3.300 v. Chr. setzten die Sumerer erste Keilschriftzeichen in Ziegel ‒ die Geschichtsschreibung beginnt. Laut diesen erhaltenen Überlieferungen war der Ziegel sogar göttlichen Ursprungs und Stufentempel (Zikkurate) wurden als Treppen betrachtet, auf der die Gottheit vom Himmel zur Erde nieder- und der Priesterkönig emporsteigt. Es liegt also der Ziegelherstellung, aus der produzierende Kultur entsteht, ein mythischer Schöpfungsakt zugrunde.
Römer brachten gebrannte Ziegel in den Alpenraum, Ziegelgitter aus ungebrannten Lehmziegeln kamen früh aus dem Vorderen Orient und Arabien. Im Herzogtum Steiermark führte Erzherzog Johann in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Brandschutzversicherungen mit gestaffelten Prämien ein und bald wurde der Tausch von Holz gegen Ziegel als Baumaterial bei Wirtschaftsgebäuden gefördert, wodurch es ab Mitte des 19. Jahrhunderts zur schnellen Ausbreitung von Ziegelgittern im Alpen-Adria-Raum kam.[i] Die aus der Verbindung von Mythen, (Volks-)Kultur, Natur, Wissenschaft und Energie entstandenen Ziegelgitterflächen an den Fassaden ermöglichten die notwendige Durchlüftung des Heus.
Pedro Cabrita Reis, einer der wichtigsten portugiesischen Gegenwartskünstler, bewegt sich an der Grenze zwischen Architektur, Skulptur und Malerei, arbeitet mit zivilisatorischem Rest- und Baumaterial und schafft immer wieder neue Räume oder deutet alte um. Von Peter Pakesch in die Südoststeiermark eingeladen, war er fasziniert von Material und Architektur in dieser Region. Als ihm ein Konvolut an Ziegeln zur Verfügung gestellt wurde, dachte er nicht nur deren Erscheinungsform, sondern auch deren Geschichte und mythischen Gehalt neu. Aus seinen Untersuchungen zu Raum, Architektur und kulturellem Gedächtnis zu kollektiver und individueller Erinnerung geht er über das Sichtbare hinaus und leitet mit Assembly/Versammlung einen poetischen Diskurs ein.
Dafür sucht er keinen prominenten Platz, sondern wählt ein Waldstück nahe dem Kaskögerlweg in Poppendorf, nicht um dort Raum zu besetzen, sondern um einen neuen Raum, der mit seiner Umgebung im Dialog steht, eine neue Realität zu erschließen. 21 aus Ziegeln zusammengesetzte Bänke, verbunden mit je einem Baum, finden sich hier als autonomes Kunstwerk, das gleichzeitig (Möbel)skulptur sowie Basis für Kommunikation, aber auch Kontemplation darstellt.
Eine zusätzliche Ebene erhält die Arbeit durch 21 lyrische Wortpaare, die Materielles und Ideelles spannungsreich verweben, Körper und Geist, irdische, sphärische und universelle Dimensionen eröffnen. Um die Ecke eingraviert entspinnt sich auf diese Weise ein räumliches Gedicht im Wald.
Der dadurch entstehende energetische Raum erscheint einerseits in sich ruhend, lädt andererseits zur Interaktion oder Konzentration ein. In der Vervielfältigung, mit der Reis öfter arbeitet, kreiert er nicht nur ein Feld durch Multiplikation, er generiert auch die Möglichkeit zur Intensität. Aus der Versammlung/Assemblage von Material, das nicht mehr gebraucht wird, übriggeblieben ist, schafft er in zurückhaltendster Setzung offene Architektur, die Prozess statt Bedingung bedeutet. Wesentliches Anliegen ist ihm dabei, Menschen zu versammeln. Damit stellt Assembly/Versammlung Beziehungen zwischen einzelnen Menschen, aber auch der Gesellschaft zum sozialen und natürlichen Umraum her und fördert das Erforschen unserer Gegenwart in der vom Menschen gestalteten Natur.
Aus einer möglichst reduzierten Idee erschließen sich Hauptthemen wie vom Menschen geschaffene Plätze, Grenzen, Okkupation oder Freiheit, die von uns aufgenommen und reflektiert werden können.
Auf diesem offenen Raum und gleichzeitig Ruheplatz, der zur Versammlung und ebenso zu Selbstbeobachtung und Gelassenheit einlädt, erfahren wir Unterschiede zwischen Wunsch, Sehnsucht und Wissen. In vergleichender Gegenüberstellung der Frage, was wir uns wünschen und was wir haben, nimmt sich der Künstler weitgehend zurück, reduziert seine Arbeit auf ein materielles Minimum, um uns Hören, Sehen, Riechen, Empfinden, Verstehen und neues Denken zu ermöglichen. So nehmen wir zu unterschiedlichen Tages-, Nacht- oder Jahreszeiten auch unterschiedliche Geräusche, Farben, Himmel, Wind und Wolken, Gerüche, Licht und Dunkelheit wahr, wodurch Raum für Zeit, die nicht festzumachen ist, geschaffen wird, unsere Sinne angesprochen und geschärft werden. Es ist konzentrierte Energie, Essenz, die nicht auf laute Geschehnisse, auf Events abzielt, sondern mittels zurückhaltender und einfacher Geste der Zurverfügungstellung einer skulptural-architektonischen Setzung entsteht.
In dieser Reduktion werden Fragen nach Präsenz und Absenz in einer Poesie ermöglicht, die neue Beziehungen zwischen Architektur, Kunst und Leben schafft. Aus Fragen, wie und wodurch sich Raum definiert, was Innen und Außen bedeutet, öffnet Pedro Cabrita Reis eine Aura, eine spezielle Sphäre, in der sich Intensität bilden kann, die als Energiespeicher und -spender fungiert und uns damit Rückzug, Geheimnis sowie Versammlung, also Möglichkeitsformen erweiterndes Denken öffnet.
Text von Elisabeth Fiedler
[i] Siehe: nextroom.at: Giebellucken und Stadlgitter, Führung Sa., 15. September 2018, Veranstalter: HDA, Graz.
Ein Projekt des Instituts für Kunst im öffentlichen Raum Steiermark, initiiert von Peter Pakesch. Unterstützt von der Marktgemeinde Gnas, dem Land Steiermark Kultur und Wienerberger.
Aus dem Programm:
Pedro Cabrita Reis, Assembly/Versammlung
Eröffnung
07.03.2022 > Institut für Kunst im öffentlichen Raum SteiermarkInspiriert von den lokalen Ziegelarchitekturen der Südoststeiermark mit ihren gitterförmigen Strukturen entstand die Idee zur Arbeit „Assembly/Versammlung" in Poppendorf. Initiiert von Peter Pakesch. mehr...
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