16. Oktober 2013 / Christoph Pelzl
“Volkskunde ist nicht verstaubt!” – 100 Jahre Grazer Volkskundemuseum
In den frühen Jahren lag der Sammlungsfokus vor allem auf dem bäuerlichen Lebenszusammenhang der vorindustriellen Zeit, seit dem letzten Viertel des 20. Jahrhunderts verlagerte sich der Schwerpunkt des Hauses jedoch zunehmend auf die kritische Auseinandersetzung mit aktuellen Tendenzen des Alltagslebens.
In den Jahren 2003 und 2008 wurde die Dauerausstellung des Volkskundemuseums neu gestaltet und konzentriert sich in der heutigen Form vor allem auf die drei grundlegenden Schutzfaktoren im Leben des Menschen: Wohnen, Kleiden, Glauben. Die Sammlungspräsentation widerspiegelt die Vielfältigkeit moderner Lebenskonzepte, und die „Dinge des Alltags“ werden im Volkskundemuseum nicht nur ausgestellt: Es geht vor allem darum, die „Sprache“ jener Objekte verständlich zu machen, die einst für Menschen von besonderer Bedeutung waren. Anlässlich des “runden Geburtstages” sprachen wir mit Eva Kreissl, Kuratorin der Abteilung Alltagskultur, über das Haus und die Ausstellungen im Speziellen und über die Volkskunde im Allgemeinen.
100 Jahre Grazer Volkskundemuseum: Wie feiern Sie das Jubiläum?
Genau so, wie es sich für so eine ehrwürdige Institution, die derart viel Wissen beherbergt, gebührt und wie wir uns auch nach außen präsentieren: Mit der nötigen Bescheidenheit, mit Nachdenklichkeit aber auch mit einer Prise Humor. Wir sind ein Museum der leisen Töne, doch wir vermitteln Nähe zu jedem Besucher, egal woher er oder sie kommt. Jeder kann für sich ganz persönlich Assoziationen im Volkskundemuseum finden. Und mit den offiziellen Feierlichkeiten am vergangenen Wochenende haben wir auch die Arbeit unserer Vorgänger gewürdigt. Im Großen und Ganzen gilt es jedoch, nach vorne zu blicken und sich weiterzuentwickeln.
Stichwort Weiterentwicklung: Wie hat sich das Museum in den letzten hundert Jahren verändert?
Mit der Volkskunde als wissenschaftlicher Disziplin hat auch das Museum einen Paradigmenwechsel vollzogen: Wir sammeln Dinge nicht, weil sie alt, echt oder schön sind, sondern weil sie Aussagen über Menschen und ihr Leben machen. Man muss Viktor Geramb für die Gründung des Volkskundemuseums sehr dankbar sein, aber natürlich darf man nie im Status quo verharren. Gerambs Sammeltätigkeit war damals revolutionär: Er sammelte Dinge, die in anderen Museen aus dieser Zeit nicht zu finden sind. Es ging ihm nicht um das Außergewöhnliche oder um Volkskunst, sondern er griff die Dinge wirklich aus dem Alltag der Menschen heraus. Allerdings wollte er auf diese Weise anderen eine Anleitung für ein „besseres Leben“ geben. Diesen Ansatz verfolgen wir heute natürlich nicht mehr, denn in der Gegenwart stellen sich wesentlich andere Fragen als vor hundert Jahren. Wir nehmen die historischen Objekte als Sachzeugnisse für die Ursprünge unseres heutigen Handelns und verfolgen sie in unserer Sammlung und in den Ausstellungen bis in die Gegenwart. Das ist in meinen Augen die Legitimation eines Museums: Das Heute durch das Gestern verstehen lernen, nicht es zu kopieren oder Sehnsüchte zu befriedigen. Dabei verfolgen wir nicht unbedingt die vordergründige Aktualität, die uns von den Medien vorgegeben wird – es geht uns vielmehr um ein elementares Erklären des Alltags: Warum denken, empfinden, handeln wir so wie wir es tun?
Wo sind diese Dinge einzuordnen?
Unsere Sammlungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Kleidung und Tracht, Haus und Wohnen, Glaube und Brauch. Wir wollen entschlüsseln, welche Bedeutung diese Dinge einst gehabt haben und wir untersuchen, wie sie sich im Laufe der Zeit verändert haben, um zu verstehen, wie sie heute das Leben prägen. Der momentane Trachtenboom ist zum Beispiel nur zu verstehen, wenn man bedenkt, welche Sehnsüchte an dieses Gewand seit der Entdeckung durch Adel und Bürgertum geknüpft wurden. Oder unsere originale Rauchstube: Sie ist mehr als 500 Jahre alt und war der einzige Wohnraum einer Familie. In diesem engen, dunklen Raum denkt man gerade durch den Kontrast zu heute über unsere modernen Wohnbedürfnisse gleich ganz anders nach. Und ohne die Hinterfragung von Spiritualität und Religion kann man eine Gesellschaft sowieso nicht verstehen. Das ist mir selbst erst klar geworden, als ich ans Volkskundemuseum gekommen bin.
Besteht die Gefahr, dass diese Wurzeln in Vergessenheit geraten?
Die Gefahr besteht natürlich. Unsere Sammlung besticht in erster Linie nicht durch besonders prunkvolle und kostbare Stücke. Ich bin stolz darauf, dass wir eines der wenigen Museen sind, die Stücke aus dem wirklichen Alltagsleben – etwa geflickte Kleidungsstücke – aufbewahren und genauso sorgfältig pflegen, als wären sie aus Brokat oder Samt. Freilich haben wir auch viele Dinge aus edlem Material. Es ist immer der Sinngehalt, der die Stücke für uns wertvoll macht. Wenn wir über Verwendung und Bedeutung der Objekte nichts mehr wüssten, dann hätten sie ihre Sprache verloren, wären stumm. Wenn das Hintergrundwissen zu diesen Dingen verloren ginge, das ein Museum mit hütet, so fehlte uns auch das Basiswissen über das Jetzt und unsere heutige Kultur. Ein Baum, der keine Wurzeln hat, kann nicht wachsen. Insofern ist das Volkskundemuseum eine Art Verortung, damit man weiß, wo man selber steht und damit man versteht, wie wir leben. Mit dieser Selbstvergewisserung kann man dann auch offen auf Fremdes und Neues zugehen.
Inwiefern betrübt es Sie dann, dass nicht mehr Besucherinnen und Besucher den Weg in die Paulustorgasse finden?
Natürlich würden wir uns mehr Zustrom wünschen, zumal jene, die einmal über unsere Schwelle kamen, begeistert vom Gebotenen sind. Unsere Besucher empfinden das Museum als anregend und spannend. Wir arbeiten – was sonst nur in Natur- und Technikmuseen üblich ist – auch mit interaktiven Stationen und mit der aktiven Einbeziehung des Publikums. Das ist wie auch all die Workshops, die wir anbieten, besonders bei Kindern und Jugendlichen sehr beliebt. Nach einer Führung durch die Dauerausstellung letztens hat mich eine junge Dame im Nachhinein angesprochen: „Wenn ich gewusst hätte, was mich hier erwartet, wäre ich schon viel früher hergekommen.“ Genauso wie ihr geht es vermutlich den meisten unserer Besucherinnen und Besucher.
Ist der Name „Volkskundemuseum“ vielleicht ein Hindernis?
Leute, die ein Heimatmuseum oder ein traditionelles Volkskundemuseum erwarten, werden enttäuscht sein. Wir sind ein modernes Haus, das mit modernen Methoden über Alltagskultur nachdenkt und sich damit auseinandersetzt, wie wir leben. Sicherlich klingt der Begriff „Volkskunde“ antiquiert, aber zu Unrecht. Die Volkskunde ist eine spannende Wissenschaft, genauso wie unser Museum.
Finden Sie selbst heraus, wie lebensnah Volkskunde ist: Anlässlich des 100-Jahr-Jubiläums erhalten Sie noch bis 23. Oktober freien Eintritt in das Volkskundemuseum!
Bis 21. Dezember ist noch die Sonderausstellung Dirndl, Jeans und Seidenstrumpf zu sehen, die die sozialen Codes von Kleidung dechiffriert.
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